Studie über den Siegeszug des Bauchgefühls in der US-Politik
Eine Auswertung von acht Millionen politischen Reden innerhalb etlicher Jahrzehnte zeigt: Nie zuvor wurde im US-Kongress so viel nach persönlichen Überzeugungen argumentiert - und so wenig nach Fakten. Forschende des Exzellenzclusters "The Politics of Inequality" der deutschen Uni Konstanz beobachteten mit Kollegen der Uni Graz einen Rückgang des Faktenbezugs in der Rhetorik beider US-amerikanischen Parteien vor allem seit den 1970er-Jahren, wie am Montag mitgeteilt wurde.
Wie werden politische Debatten geführt - auf Grundlage von Fakten oder eher nach persönlichen Meinungen? Dieser Frage ging das internationale Forschungsteam nach. Untersucht wurde die politische Rhetorik in acht Millionen Reden des US-Kongresses zwischen 1879 und 2022, ob hier schwerpunktmäßig mit Daten und Fakten argumentiert wird oder anhand von persönlichen Überzeugungen und subjektiven Interpretationen.
Deutlicher Faktenbezug-Rückgang seit 1970ern
Festgestellt wurde ein deutlicher Rückgang des Faktenbezugs in der politischen Rhetorik seit den 1970er-Jahren, mit einem historischen Tiefstand in der Gegenwart. Im selben Zeitraum beobachteten die Forschenden einen Rückgang legislativer Produktivität, eine Zunahme der politischen Polarisierung beider US-amerikanischer Parteien sowie einen Anstieg von ökonomischer Ungleichheit in der Gesellschaft.
David Garcia, Professor für Social and Behavioural Data Science an der Universität Konstanz und Hauptautor der Studie: "In vielen Demokratien besteht derzeit Sorge um einen 'Wahrheitsverfall': Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion werden verwischt, was nicht nur Polarisierungen Vorschub leistet, sondern auch das öffentliche Vertrauen in die politischen Institutionen untergräbt". Gemeinsam mit Forschenden aus Großbritannien, Israel, Österreich und Deutschland untersuchte Garcia die politische Rhetorik in US-Kongressreden aus über 140 Jahren. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie Politiker ihre Vorstellung von Wahrheit sprachlich zum Ausdruck bringen: durch den Rückbezug auf objektive Fakten oder eher auf Grundlage persönlicher Überzeugungen.
In produktivem demokratischen Diskurs herrscht Balance
"In einem produktiven demokratischen Diskurs gibt es eine Balance zwischen einem faktenbasierten und intuitionsbasierten Wahrheitsverständnis", so Garcia. Während Fakten die Grundlage einer rationalen Debatte bilden, können Intuition und persönliche Überzeugungen durchaus wichtig sein, um Probleme der Gesellschaft zu ergründen und zu lösen. Gerät die Balance jedoch in eine Schieflage und die Fakten geraten ins Hintertreffen, gefährdet dies den politischen Diskurs. Genau diese Entwicklung beobachteten die Forschenden in den US-Kongressreden.
Zwischen 1879 und der Mitte des 20. Jahrhunderts blieb das Verhältnis zwischen Fakten und Intuition in den Kongressreden zunächst relativ stabil und ausgeglichen. Ab 1940 zeichnete sich sogar ein Aufwärtstrend zugunsten der Fakten ab, mit einem Höhepunkt Mitte der 1970er-Jahre. Zwischen 1976 und 2022 kam es allerdings zu einem deutlichen, kontinuierlichen Rückgang des Faktenbezugs in den Kongressreden, mit einem historischen Tief in der Gegenwart. Beide US-amerikanische Parteien sind von diesem Abwärtstrend betroffen, wobei er bei den Republikanern in der jüngeren Vergangenheit (seit 2021) steiler ausfällt. Ähnliche Ergebnisse zeigte auch eine Analyse der Forscher von Twitter/X-Nachrichten der US-Kongressmitglieder zwischen 2011 und 2022.
Tatsachen und Fakten erhöhen Leistung
"Ein bemerkenswerter Aspekt unserer Ergebnisse ist der starke Zusammenhang zwischen faktenbasierter Sprache und Leistung", hob Co-Autor Stephan Lewandowsky, Professor für Cognitive Psychology an der University of Bristol, hervor. "Je mehr die Reden im Kongress sich auf Tatsachen und Fakten stützen anstelle auf Intuition, desto besser fällt die Leistung des Kongresses aus und desto weniger Polarisierung herrscht zwischen den Parteien.
Die acht Millionen Kongress-Reden wurden mit computergestützten Analysemethoden untersucht, sagte Autor Segun Aroyehun. Beurteilt wurden die Bedeutung der Wörter in Reden. Mit Wörterbüchern wurden sie ins Verhältnis zu Begriffen gesetzt, die Wahrheitsvorstellungen zum Ausdruck bringen. Auf diese Weise konnte man die Schwerpunkte der Reden im zeitlichen Verlauf untersuchen.
Vergleichbarkeit von Schlüsselwörtern entwickelt
Zunächst wurden repräsentative, markante Schlüsselwörter identifiziert, anhand derer eine fakten- bzw. intuitionsbasierte Rhetorik festgemacht werden kann. Diese Liste umfasste 49 Schlüsselwörter für eine faktenbasierte Sprache (zum Beispiel "analyse", "data", "findings", "investigation") und 35 Schlüsselwörter für eine intuitionsbasierte Sprache (zum Beispiel "point of view", "common sense", "guess", "believe").
Mit computergestützter Hilfe wurden dann die acht Millionen Texte auf das Verhältnis dieser Schlüsselwörter hin untersucht. Daraus wurde eine Kennzahl (EMI, "Evidence-Minus-Intuition") errechnet, die das Verhältnis zwischen faktenbasierter und intuitionsbasierter Rhetorik wiedergibt. Ist der EMI-Wert positiv, so wurde vermehrt nach Fakten argumentiert. Ist der Wert negativ, so basierte die Rhetorik überwiegend auf persönlichen Überzeugungen.
Die Analyse-Methode war bereits in einem Vorgängerprojekt entwickelt worden. Jana Lasser, seit 2024 Professorin für Data Analysis an der Universität Graz, hat dabei Sprachmuster von Twitter-Posts der Mitglieder des US-Kongresses in den Jahren 2011 bis 2022 untersucht. "Schon in diesem Zeitraum zeigte sich eine Veränderung des Argumentationsstils", erklärt Lasser. "Persönliche Überzeugungen gewannen nach und nach an Bedeutung und wurden dabei zunehmend losgelöst von wissenschaftlichen Fakten präsentiert."
Service: Die Studie wurde auch unter https://www.nature.com/articles/s41562-025-02136-2 publiziert.