#CoronaAlltag: Der Alltag steht Kopf - lernen aus der Krise oder zurück in die alten Muster?
Die Corona-Pandemie ist als ein Naturereignis über die Welt gekommen. Anders als etwa bei Kriegen, technischen Unglücken oder dem anthropogenen Klimawandel ist die Menschheit nicht unmittelbar dafür verantwortlich oder ursächlich. Natürlich kann und muss man immer kritisch fragen, wo vielleicht falsch, zu spät oder stümperhaft reagiert wurde, wo Mängel in Vorsorge, Kommunikation und Umgang zu verzeichnen waren und sind. Und dies wird man auch in aller Klarheit aufarbeiten müssen, um für die Zukunft daraus zu lernen. Aber insgesamt bleibt doch festzuhalten, dass wir individuell wie gesellschaftlich in erster Linie auf diese Herausforderung re-agieren und uns in einer Abwehrhaltung befinden - so gut es eben geht. Das betrifft uns alle gleichermaßen.
Doch diese Krisensituation wird von verschiedenen Menschen höchst unterschiedlich wahrgenommen. Es ist ein gravierender Unterschied, ob man alleine lebt oder in Gemeinschaft, ob man von Arbeitslosigkeit bzw. Einkommensausfällen betroffen ist oder nicht, ob man zu einer spezifischen Risikogruppe gehört, ob direkte menschliche Kontakte schmerzlich fehlen oder in familiärer Enge manchmal zu viel werden, ob man in einer kleinen Wohnung lebt oder in einem eigenen Haus mit Garten.
Manche mögen den Lockdown sogar als willkommene Auszeit vom Alltagstrott erleben und widmen sich ihren Hobbies, teilweise ist sogar von Corona-Ferien die Rede. Andere brechen unter der kombinierten Last aus Home schooling, Home office, Familienstreitigkeiten und wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Sorgen fast zusammen. Wir sollten uns immer wieder die Breite dieser verschiedenen Lebenswirklichkeiten bewusst machen. Nur dies bewahrt uns vor Ignoranz.
Zugleich bieten sich enorme Lernchancen: politisch, medizinisch, technisch, ökonomisch und gesellschaftlich. Wie können wir uns künftig so einrichten, dass wir auf derartige Situationen noch besser reagieren können? Vielleicht wächst in dieser Krise das Bewusstsein für den Wert des Vorsorgeprinzips wieder. Gesellschaften, die in vielerlei Hinsicht - technisch, personell, ökonomisch - "auf Kante genäht" sind, erweisen sich jetzt als besonders verletzlich. Wo systemrelevante Strukturen - allen voran die Gesundheitssysteme - in den letzten Jahren mit ökonomisierenden Mechanismen auf Schlankheit und Profitabilität gebürstet wurden, zeigt sich der Mangel an Reserven nun besonders stark.
Eine zweite Lernchance ist, die Prioritäten in unserem Alltag neu zu überdenken.
Vieles, was uns sonst als unbedingt notwendig galt, ist tatsächlich gar nicht so wichtig: Manche Anschaffung, manche Reise, manches Meeting und manche Veranstaltung erweisen sich als völlig verzichtbar.
Anderes jedoch, was uns sonst als unspektakulär und selbstverständlich erschien, wird uns jetzt in seinem Wert neu bewusst: Der direkte Kontakt und Austausch mit Kollegen und Studierenden zum Beispiel, die Möglichkeit, sich frei in Stadt, Land und Natur zu bewegen, die vielen kleinen Alltagsbegegnungen im öffentlichen Raum.
Die Grenzlinien zwischen notwendig, nice-to-have und überflüssig werden neu bestimmt. Auch die Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung - Stichwort: e-Lehre - werden uns an den Universitäten in diesen Wochen besonders deutlich. Sowohl eine prinzipielle Digitalisierungsskepsis als auch eine prinzipielle Digitalisierungseuphorie - für beide Haltungen sind reichlich Beispiele vorhanden - müssen sich an der gegenwärtigen Realität neu ausrichten lassen.
Insofern ist diese Zwangssituation auch eine riesige Chance. Denn mit dem Klimawandel wartet auf uns als Weltgesellschaft bekanntlich schon die nächste, vielleicht noch viel größere Herausforderung. Meine Hoffnung ist: Wenn wir die jetzt gewonnenen Erkenntnisse bewusst und aktiv in die Nach-Corona-Zeit mitnehmen - möge sie bald kommen! - und nicht einfach wieder blind in die alten Muster verfallen, dann haben wir tatsächlich aus der Krise auch etwas gelernt - gesellschaftlich wie individuell.
Zur Person:
Timo Heimerdinger ist Universitätsprofessor für Europäische Ethnologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und dort auch Leiter des Forschungsschwerpunktes "Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte". Der Kulturwissenschaftler befasst sich wissenschaftlich mit Alltagskultur, seine Arbeitsschwerpunkte sind derzeit u.a.: Konfessionalität, Alltagsästhetik, Ratsuche und Beratung, Körperlichkeit und Praktiken des Verzichts.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.