Im Nationalpark Gesäuse forscht man am Boden und in der Luft
Die "sprechende Buche" war der ganze Stolz des Nationalparks Gesäuse. In der Lettmair Au erzählte sie den Menschen, die auf den sie umgebenden Sesseln Platz nahmen, über ihr Leben im Auwald an der Enns, über ihre 224.000 Blätter und die Veränderungen während der Jahreszeiten. Am 18. August 2022 warf eine jähe Sturmböe die alte Buche und ihre Nachbarbäume um. Nun erzählt sie, inmitten der sich übereinander türmenden Überreste dieses Windwurfs, eine ganz andere Geschichte.
"Die Natur hat uns in zwei Minuten einen Strich durch die Rechnung gemacht", erzählt Andreas Hollinger. Als Kommunikationsleiter des steirischen Nationalparks ist er besonders stolz auf die gelungene Vermittlungsarbeit, die an diesem Lehrpfad Menschen Einsichten in natürliche Abläufe vermittelt. Vor allem die aufwendig gemachte Multimediastation rund um die Buche war sehr beliebt. "Unser erster Impuls war, die Erlebnisstation möglichst schnell wieder herzustellen", sagt Alexander Maringer. Er leitet die Naturschutzabteilung und spricht darüber, dass der Druck, "den Saustall zu beseitigen" und "einen gefälligen Zustand wiederherzustellen", groß war. Doch man entschloss sich für ein Innehalten. Und schließlich dafür, nicht die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen.
Nun macht man aus der Not eine Tugend: Nach längeren Vorarbeiten hat man kürzlich ein Langzeitmonitoring gestartet, das an vier Bäumen, die zum gleichen Zeitpunkt dem Sturm zum Opfer fielen, die Veränderung der Natur genau unter die Lupe nimmt. Die Biologin Barbara Bock hat dafür eine Buche, eine Fichte, eine Tanne und eine Schwarzpappel ausgesucht und letztere bereits mit zwei Markierungen im Abstand von 50 Zentimetern versehen. "An jedem Baumstamm markieren wir so zwei Flächen, die rund um den Stamm führen und von uns regelmäßig untersucht werden", sagt die Spezialistin für Flechten und Moose und demonstriert die Feuchtigkeit, die der Baumrinde bereits ordentlich zusetzt.
Fünf Zersetzungsstadien
Auch auf Gefäßpflanzen, Moos- und Bärtierchen wird man ein Auge werfen, doch wenn die Wissenschafterin über "Eichkätzchenschwanz-Moos" und "grünes Koboldmoos" (eine der wenigen durch FFH-Richtlinie geschützten Moosarten) spricht, weiß man, wofür ihr Herz schlägt. "Es gibt fünf Zersetzungsstadien", erklärt Bock. "Die interessantesten Totholzmoose kommen zwischen den Stadien drei und vier." Wirklich in Schwung kommt der Prozess erst, wenn der derzeit waagrecht im Gehölz liegende Stamm zur Gänze Bodenkontakt erhalten und überall Bodenfeuchte aufnehmen wird. "Dass der Baum sich ganz zersetzt, werden wir nicht mehr erleben. Aber unser Monitoring ist über ein einziges Forscherleben hinaus angelegt."
Kleiner Schauplatzwechsel. Wenige hundert Meter entfernt von der einstigen "sprechenden Buche" hat die "Himmelstoß-Tanne" den Windbruch überlebt. Der nach einem legendären steirischen Forstdirektor benannte Baum ist über 250 Jahre alt und rund 45 Meter hoch. Es ist diese Höhe, die die Forscher besonders interessiert. "Während in den Regenwäldern Fauna und Flora der Baumkronen durch einige Projekte gut erforscht ist, gibt es in unseren Breiten noch kaum Baumkronenforschung", erklärt Maringer. Deswegen ist das, was man gemeinsam mit dem "Ökoteam Graz" an diesem Tag startet, "fast eine Pilotstudie. Die Kronenregion unserer Wälder ist weitgehend unerforscht".
Stammkletterer gehen in die Falle
Vor den Augen einer Journalistengruppe erklimmt Baumsteiger Simon Schiantarelli an einem Seil, das er mit einer Spezialschleuder über einen hoch gelegenen Ast befördert hat, den Baumriesen und bringt verschiedene Fallentypen in der Krone an: Mittels einer Baummanschette und einer Becherfalle sollen jene Arten, die am Stamm emporklettern, gefangen werden. Man habe mit der Methode etwa Bänderschnecken in 15 Meter Höhe gefunden, was man ihnen nicht zugetraut hätte, sagt Ökoteam-Geschäftsführer Christian Komposch. "Die müssen zu Fuß dort raufgekommen sein." Überhaupt erwarte man in diesem Forschungsprojekt "für viele Tierarten neue Höhenrekorde".
Eine große Kreuzfensterfalle für Fluginsekten wird erst in einigen Wochen wieder abgenommen werden, während der Inhalt jenes Sacks, den Schiantarelli über einen Ast gestülpt und die dort lebenden Kleinlebewesen mittels Schütteln hineinbefördert hat, auf einer am Boden ausgebreiteten weißen Plane sofort untersucht wird. Spinnen, Weberknechte, Schaben, Ohrwürmer, Hundert- und Tausendfüßler, Pseudoskorpione und andere Tiere werden mittels Exhaustor in Glasröhrchen befördert. Spinnenspezialist Komposch ist begeistert: "Hier gibt es eine hohe Zahl endemischer Arten. Wir tauchen in ein neues Ökosystem ein."
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)