ZELLE | ParZELLE - Urbane Räume nachhaltig gestalten
Das Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) und das Grazer Büro für Stadtplanung und Stadtforschung adasca e.U. gehen in einem interdisziplinären Projekt der Frage nach, was Stadtplanung vom Forschungsfeld der Biotechnologie lernen kann. Dabei wird die Zelle, als kleinste lebendige Einheit in der Natur, der Parzelle, dem kleinsten Strukturelement der Stadt, gegenübergestellt. Ziel ist es, Erkenntnisse zu gewinnen, um urbane Räume vor dem Hintergrund aktueller Einflussfaktoren wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, Demografie oder Bevölkerungswachstum zukünftig nachhaltiger zu gestalten.
Welche Gemeinsamkeiten werden sichtbar, wenn man analytisch der Zelle - die kleinste lebendige Einheit in der Natur, die Parzelle - das kleinste Strukturelement der Stadt, gegenüberstellt? Welche Erkenntnisse ergeben sich dadurch für die Forschungsfelder Städtebau und Biotechnologie? Und was können urbane Räume von der Natur lernen?
Diesen Fragestellungen geht das Grazer Projekt ZELLE | ParZELLE nach. Es wurde von adasca, einem Grazer Büro für Stadtplanung und Stadtforschung, ins Leben gerufen und wird gemeinsam mit dem Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) die nächsten vier Jahre durchgeführt. "adasca arbeitet an nachhaltigen, räumlichen Lösungen vor dem Hintergrund von Herausforderungen wie Klima, Energie, Technologie, Mobilität, Gesellschaft, Kultur und Bildung", erklärt adasca-Gründerin Sanela Pansinger, die gemeinsam mit Architektin Petra Kohlenprath den Fokus auf städtebauliche Entwicklungen legt: "Wir wollen nicht nur aus biotechnologischer Sicht nach der Systematik und den Eigenschaften einer Zelle fragen, sondern die Zelle als Parzelle denken. Denn wie etwa in den Zellen im menschlichen Körper findet ebenso ein Austausch zwischen der Parzelle und der Umgebung statt. Wie Zellen uns als Ganzes formen, bestimmen Parzellen als Gliederungselemente die Struktur, die Körnigkeit und die "Maßstäblichkeit" einer Stadt. Somit sind für den urbanen Raum die Größe und Anordnung der Parzellen wichtige Identifikationsmerkmale einer Stadt. Eine Parzelle, als Co-Existenzraum, ist lebendig, sie atmet, wie auch eine Stadt eine Art Organismus darstellt", betonen die Architektinnen und verweisen auf unsere eigene Verbindung zum Raum. Dieser Raum scheint jedoch zunehmend in Gefahr: "Immer mehr Flächen werden versiegelt und verbraucht, was negative Auswirkungen auf Lebensräume, die Umwelt und unser Klima hat", erklärt Kohlenprath.
Kleinstes Strukturelement, größtes Potenzial für nachhaltigen Lebensraum
Durch die richtige räumliche Einbettung und Skalierung von Parzellen können städtebaulich jedoch Mehrwerte wie Identität und Resilienz geschaffen sowie eine CO2-Reduktion erreicht werden.
Dazu wurde ein interdisziplinärer Ansatz an der Nahtstelle zwischen architektonischer Raumplanung und biotechnologischer Forschung gewählt. Früh im Projekt wurde ein molekularbiologisches Team rund um acib-Projektleiterin Anita Emmerstorfer-Augustin, Harald Pichler, Regina Leber und Renate Rogi-Kohlenprath eingebunden, um den Aufbau und die Funktionsweise von Zellen besser verstehen zu lernen, Gemeinsamkeiten beider Forschungsfelder herauszuarbeiten und vor allem zu klären, wie Parzellen nachhaltig gestaltet werden können: "Wir haben die formalen Ähnlichkeiten zwischen Zelle und Parzelle erfasst und ihre für uns unsichtbaren Strukturen lesbar gemacht. So können wir vermitteln, welche Bedeutung das kleinste Strukturelement im Kreislauf des städtischen oder lebendigen Wesens hat und welche Auswirkungen heutige Herausforderungen auf sie haben. Dieses Wissen gibt uns die Möglichkeit, die Rolle und das Potenzial der Parzelle oder Zelle bei der Schaffung eines ökologisch, ökonomisch, sozial und räumlich nachhaltigen Lebensraums zu verstehen", so Anita Emmerstorfer-Augustin.
Optimieren, aber nicht über-optimieren
Wie nahe Stadtplanung und Biotechnologie verwandt sind, zeigt sich nicht zuletzt an der Vorgangsweise in der Zellentwicklung. Diese folgt vier Stufen, die ähnlich der Stadtplanung sind, erklärt Emmerstorfer-Augustin: "Entwerfen - Bauen - Testen - Lernen. Die Zelle wird so lange optimiert, bis sie das Maximum an Leistung bringt, z.B. bestes Wachstum unter harten Bedingungen und beste Produktivität bei der Herstellung von verschiedenen Feinchemikalien oder Proteinen. Die Optimierung einer Zelle führt oft nicht nur zum gewünschten Ziel, sondern auch zu ihrer völligen Erschöpfung. Daher müssen wir als Biotechnologen die Balance finde, wo wir optimieren, aber nicht über-optimieren bis zur Nicht-Existenz."
Systematisch auf den Bereich der Stadtplanung übertragen, wird ein Grundstück oft nur unter dem wirtschaftlichen Aspekt optimiert. "Nehmen wir Einkaufszentren als Beispiel, hier sind viele Parzellen zu einer großen Fläche zusammengefasst, oft mit Asphalt versiegelt. Die Parzelle wird optimiert und verschwindet. Der Kreislauf zwischen der Umgebung und dem Grundstück selbst wird unterbrochen. Es kommt zu einem Verlust an Identität und Widerstandsfähigkeit. Die Folgen dieser Prozesse sind Wärmeinseln, die wir gerade im Sommer stark spüren, aber auch Bodenverbrauch, starke CO2-Belastung und vieles mehr", sagt Pansinger. "Ohne Grünflächen kollabiert das System irgendwann. Stadtkerne und Begegnungszonen verschwinden und es findet immer weniger Kommunikation statt. Eine Begleiterscheinung der Überoptimierung von Städten ist weiters, dass sich niemand mehr für seinen Raum, seine Parzelle verantwortlich fühlt, sich nicht zugehörig fühlt. Die Wohnungen werden immer kleiner, die Wohnbauten immer größer, wodurch die klassische europäische Bauweise verschwindet. Der identitätsstiftende Charakter einer Stadt ist zunehmend am Schwinden", so die Forscher.
Vom Raum zum Lebensraum
"Wir müssen uns fragen, welche Anforderungen wir an Städte stellen?", so Kohlenprath. Deshalb will das Projekt Einflussfaktoren wie Klima, Raum, Kultur, Soziales und ökonomische Fragestellungen im Projekt miteinbeziehen. Insbesondere sind das jene vier Hauptkriterien, an denen die "Persönlichkeit" einer Stadt abzulesen sind; erstens die Erkenntlichkeit und Klarheit von Räumen, zweitens der räumliche Maßstab, drittens die Zugänglichkeit sowie die topologischen Räumgrenzen und viertens deren Anpassungsfähigkeit bzw. Wandelbarkeit.
Urbane Entwicklungen und Vorhaben, betonen die Forscher nachdrücklich, müssen zweifellos vor dem Hintergrund aktueller Rahmenbedingungen und Einflüssen wie Klimawandel, Ressourcenknappheit oder demografischer Entwicklung geplant werden. An diesem Scheideweg kann die Stadtplanung viel von der Natur und den Zelleigenschaften lernen: "Die Fläche gilt als Informationsträger für die nachhaltigen Eigenschaften einer Stadt", so Kohlenprath. Sanela Pansinger fügt hinzu: "Durch unsere Handlungen und Prioritäten haben wir in der Vergangenheit oft die technologischen Errungenschaften missbraucht, um Räume nicht zu unseren Gunsten zu verbrauchen, aber die Technologie wird schließlich den Ausschlag geben, uns wieder diesen Kreislauf und Lebenszyklus zwischen Parzelle und Kontext zu ermöglichen - und damit Kommunikation, Begegnung, Nachhaltigkeit und Räume der Ökologie, die nicht mehr nur dem ökonomischen Effizienzgedanken unterworfen sind. Denn die Eigenschaften einer gesunden Zelle sollten sich auch in einem nachhaltig bebauten Grundstück wiederfinden. Erst dann wird ein Raum zum Lebensraum."
Über acib
Das 2010 gegründete Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) entwickelt neue, umweltfreundlichere und ökonomischere Prozesse für die Biotech-, Chemie- und Pharmaindustrie und verwendet dafür die Methoden der Natur als Vorbild. Das internationale Forschungszentrum für industrielle Biotechnologie ist eine Non-Profit-Organisation mit weltweiten Standorten und Hauptsitz in Graz. acib versteht sich als Partnerschaft von 150+ Universitäten und Unternehmen. acib-Eigentümer sind die Universitäten Innsbruck und Graz, die TU Graz, die BOKU Wien sowie Joanneum Research. Gefördert wird das K2-Zentrum im Rahmen des COMET-Programms durch das BMVIT, BMDW sowie die Länder Steiermark, Wien, Niederösterreich und Tirol. Das COMET-Programm wird durch die FFG abgewickelt.
Rückfragehinweis Dr. Sanela Pansinger Büro für Raum- und Stadtplanung - adasca e.U. Phone: 0043 664 8596584 Mail: office@adasca.at DI Dr. Anita Emmerstorfer-Augustin Research Group Leader - Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) Phone: 0043 316 873 4078 Mail: anita.emmerstorfer-augustin@acib.at Pressekontakt: Martin Walpot, MA Head of Public Relations and Marketing acib GmbH Phone: +43 316 873 9312 E-Mail: martin.walpot@acib.at