Klima-Glossar: Dekarbonisierung
"Wir können und müssen es schaffen, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent wird", rief die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, im Jahr 2019 als hehres Ziel aus. Auf diesem Weg soll die Dekarbonisierung eine zentrale Rolle spielen. Der Begriff selbst steht wortwörtlich für die Abkehr von Karbon, also von Kohlenstoff. Klimaneutralität bedeutet, dass nicht mehr Emissionen ausgestoßen werden, als die Erde aufnehmen kann.
Also einfach weniger Kohlendioxid (CO2) ausstoßen und alles wird gut? Was sich einfach anhört, stellt jedoch die gesamte Gesellschaft vor immense Herausforderungen. Das Element um den sich bei der Dekarbonisierung alles dreht ist Kohlenstoff. Er ist ein wichtiger Bestandteil unserer Existenz, alle lebenden Gewebe sind aus seinen Verbindungen aufgebaut. Bei der Atmung und wenn organische Strukturen verrotten oder verbrennen, wird der Kohlenstoff freigesetzt und verbindet sich mit Sauerstoff zu Kohlendioxid.
Dieses Treibhausgas ist ein natürlicher Bestandteil der Luft und wird von Pflanzen im Zuge der Photosynthese wieder aus der Atmosphäre entnommen und in der Biomasse gebunden. Es ist ein seit jeher funktionierender Kreislauf, den der Mensch damit irritiert hat, dass er fossile Energieträger ins Spiel gebracht hat. Die Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Co. setzt Kohlenstoff frei, der eigentlich nicht mehr Bestandteil unserer Atmosphäre sein sollte. Mit Hilfe der Maßnahmen zur Dekarbonisierung soll dieser Fehler nun behoben werden. Nebenbei bemerkt, es gibt auch noch zwei andere relevante Treibhausgase, Lachgas und Methan, die ebenfalls an der Klimaerwärmung beteiligt sind.
Die Strategien, das überschüssige CO2 wieder loszuwerden, greifen weit in die Gesellschaft hinein. Jedes einzelne Vorhaben zieht weitreichende Änderungen mit sich, die die Komplexität dieser Aufgabe verstärken und die gesamte Gesellschaft vor große Herausforderungen stellt. So gibt es laut Elvira Lutter, Programm und Research-Managerin vom Klima- und Energiefonds, "für 50 bis 70 Prozent der Emissionen aus der energieintensiven Industrie heute am Markt keine verfügbaren Technologien", um die Emissionen in diesem Sektor zu vermeiden. Ideen und Konzepte dazu gibt es zwar, allerdings warten diese noch auf die Marktreife. Um die Entwicklung von Schlüsseltechnologien zur industriellen Energiewende zu beschleunigen wurde die Mission "Net-Zero-Industries" initiiert. Damit sollen bis 2030 Lösungen kommerziell verfügbar sein.
Die Energiewende beschert der Industrie jedenfalls volle Auftragsbücher. Die Energieinfrastruktur in Europa muss komplett umgebaut werden, um die Dekarbonisierung bis 2050 real werden zu lassen. Dafür werden Produkte der Industrie gebraucht, während sie sich selbst neu erfinden muss. Christian Holzleitner, Referatsleiter für Land Economy & CO2-Abbau in der EU, vergleicht das Vorhaben in der Folge 25 des Podcast "Folgewirkung" mit einem Flugzeug, dass man während des Fluges umbauen muss.
Aber auch schon heute steht ein vielfältiges Bündel an Maßnahmen bereit. Ein großes Thema ist die Dekarbonisierung des Verkehrs. Auf diesem Sektor wird zurzeit stark auf die Elektromobilität gesetzt. E-Autos stoßen im Betrieb zwar keine Abgase aus, dafür ist die Gewinnung der Rohstoffe zum Bau der Akkus sowie deren Entsorgung umstritten. Auch die Tatsache, dass mehr Strom aus erneuerbaren Quellen notwendig wäre, um E-Autos wirklich klimaneutral fahren zu lassen, ist ein großer Kritikpunkt.
Alternativ zu E-Autos gibt es auch die Brennstoffzellenfahrzeuge (FCEV), die mit Wasserstoff angetrieben werden. Wird dieser mit Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt, sind solche Autos klimaneutral und stoßen keine schädlichen Abgase aus. Jedoch benötigt ein Wasserstoffauto zurzeit noch mehr als das Doppelte der Energie eines E-Autos. Wasserstoff wird jedoch auch in anderen Sektoren als zukunftsträchtiger Energieträger gehandelt. Die Voraussetzung wäre, dass das zur Herstellung notwendige Elektrolyseverfahren mit nachhaltigen Energiequellen betrieben wird. Gleichzeitig zur Entwicklung neuer Technologien wird eine generelle Reduktion des Verkehrsaufkommens angestrebt, die durch den Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln und das Verkürzen von Strecken durch die Förderung von regionalen Strukturen realisiert werden sollen.
Auch beim Wohnen und beim Bauen kann fleißig eingespart werden. Gebäudesanierungen und Umrüstungen der Heizsysteme werden entsprechend gefördert. Auf dem Bausektor wird vor allem das Bauen mit Holz forciert. Der nachwachsende Rohstoff ist organischen Ursprungs und hat den Kohlenstoff, den der Baum im Wachstum aus der Atmosphäre entnommen hat, auf Lebenszeit gespeichert. Erst bei der Verbrennung oder der Verrottung wird er wieder freigegeben. Ein zweiter positiver Effekt ist, dass mit der Verwendung von Holz fossile Rohstoffe ersetzt werden können.
Ein Ansatz, der noch in den Kinderschuhen steckt, sind Negative Emissionstechnologien. Damit sollen mittels technischer Lösungen Treibhausgase aus der Atmosphäre entnommen und dauerhaft gespeichert werden. Es gibt verschiedene innovative Ansätze um Kohlendioxid entweder aus der Luft (Direct Air Capture - DAC) oder direkt am Entstehungsort einzufangen. Danach könnte es entweder dauerhaft am Meeresgrund gespeichert oder einer weiteren Nutzung in chemischen Prozessen, wie zum Beispiel der Herstellung von Kunststoffen oder synthetischen Kraftstoffen, zugeführt werden. Unter dem Fachbegriff BioEnergy Carbon Capture and Storage (BECCS) werden Methoden zusammengefasst, die auch den Ausstoß von Emissionen, die aus der Nutzung von Biomasse entstehen, neutralisieren können. All diese Technologien sind jedoch noch im Entwicklungsstadium und können noch nicht großflächig eingesetzt werden.
Im Rennen um die Klimaneutralität werden Unternehmen in Europa dazu angehalten, ihre Abgase zu reduzieren. Mit dem europäischen Emissionshandel werden derzeit etwa 45 Prozent aller Emissionen besteuert, die in der EU entstehen. Elf europäische Länder haben zusätzlich bereits eine CO2-Steuer eingeführt, um Unternehmen dazu bewegen, in nachhaltige Energien zu investieren, darunter auch Österreich. Laut dem aktuellen Regierungsprogramm soll der Alpenstaat schon 2040 klimaneutral sein.
Die Vielfalt der Maßnahmen, die Verflechtung der Sektoren und die unterschiedlichen Quellen von Kohlenstoffemissionen machen die Dekarbonisierung zu einer komplexen Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Für EU-Klima-Referatsleiter Christian Holzleitner hat die Restrukturierung die Größenordnung der industriellen Revolution. Diese hat im 18. Jahrhundert ihren Anfang genommen und zu einer beschleunigten Entwicklung in vielen Bereichen geführt. Gemeinsame globale Zusammenarbeit ist im Bestreben, die Erderwärmung einzudämmen, auf jeden Fall unumgänglich geworden.