Wenn Migration auf Forschung trifft
Sind es wirklich Flüchtlings-"Ströme" und -"Wellen", die über Österreich hereinbrechen, oder ist die derzeitige Migrationsbewegung am Ende gar nicht so krisenhaft und furchterregend, wie es die politische und mediale Rhetorik dieser Tage vielfach suggeriert? Der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Migration hat deutlich an Schlagzahl zugelegt, mit einer Botschaft, die hervorsticht: Flüchtlingskrisen sind nichts Neues in Österreich.
Das Jahr 2015 war aus Sicht der Integrationspolitik im Vergleich mit den vorangegangenen Jahren für Österreich "außergewöhnlich". Im Vorjahr wanderten laut Statistischem Jahrbuch "Migration & Integration 2016" 214.000 Personen nach Österreich zu, während zugleich knapp 101.300 das Land verließen. Daraus habe sich auch im langfristigen Vergleich "eine sehr hohe Netto-Zuwanderung" von rund 113.100 Personen ergeben, heißt es in der von Statistik Austria und der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erstellten Broschüre. Dieser Wert hat für ein einzelnes Jahr auch die starke Zuwanderung Anfang der 1990er-Jahre nach Österreich übertroffen und wurde zuletzt 1956/57 durch Fluchtbewegungen aus Ungarn erreicht.
Hauptgrund für die hohe Zuwanderung waren die rund 90.000 Asylanträge, die mehrheitlich von Personen aus den Krisengebieten in Afghanistan (25.600), Syrien (24.500) und Irak (13.600) gestellt wurden. Einige politische Weichenstellungen - Schließung der Balkanroute für Flüchtlinge und die von der Regierung für heuer mit 37.500 Personen festgelegte "Kapazitätsgrenze" (bzw. "Obergrenze") für Asylverfahren - machen eine Wiederholung dieser hohen Zahlen zumindest in naher Zukunft unwahrscheinlich.
"Ein Land geht davon nicht unter"
Im größeren (zeit-)geschichtlichen Kontext wird die heutige Situation schon weniger außergewöhnlich, wie Experten versichern: "2015 ist nichts passiert, was wir nicht schon kennen", erklärte etwa der Wiener Historiker Maximilian Graf der APA vor allem in Bezug auf Ungarn-Flüchtlinge von 1956/57 (siehe etwa "Ungarn 1956 - Reaktionen auf Flüchtlinge folgen heute gleichem Muster").
Bei einer Tagung an der ÖAW im September, bei der die Rolle Österreichs als "Asylland wider Willen" im Fokus stand, kam man zu einem ähnlichen Befund. Die Geschichte liefere sicher keine Ideallösung für die Gegenwart, betonte Historiker Börries Kuzmany von der ÖAW. Sie zeige aber, dass das Land trotz Überforderung von Politik und Öffentlichkeit in der Vergangenheit keinen Schaden genommen hätte. "Ich möchte zeigen, dass man nicht solche Angst zu haben braucht. Ein Land geht davon nicht unter."
"Kein Migrations-Tsunami"
Ähnlich relativierend argumentiert Wolfgang Lutz, Direktor des World Population Program am IIASA, im Interview mit APA-Science: "Die an unserem Institut erstellten Statistiken zu weltweiten Migrationsströmen über die letzten 20 Jahre zeigen, dass die Migrationsraten global gesehen im Zeitverlauf gar nicht zugenommen haben. Das steht im Gegensatz zu dem von den Medien vermittelten Eindruck eines 'Migrations-Tsunamis'."
"Migration, gezwungenermaßen und nicht erzwungen, Flucht und Vertreibung sind so alt wie die Menschheit", betonte wiederum Stefan Karner vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung vor kurzem im Rahmen der Konferenz "Migration - Flucht Vertreibung Integration" des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft in Wien. 1980 hätte man weltweit mit rund 22 Millionen Flüchtlingen gerechnet, aktuell gehe man von 56 Millionen Flüchtlingen aus. Kriegsereignisse und ethnisch motivierte Vertreibungen stünden als Ursachen im Vordergrund. Hinzu würde wohl in Zukunft auch der Entzug der Lebensgrundlagen aufgrund klimatischer Veränderungen etc. kommen.
Was ist Migration, was Integration?
Nicht immer ganz klar scheint, was mit den ständig gebrauchten Begriffen Migration und Integration überhaupt gemeint ist. "Ein auf Dauer angelegter Wohnortwechsel über eine internationale Staatsgrenze hinweg mit einer Mindestdauer von drei Monaten", das ist im Kern die Definition der Vereinten Nationen für den Begriff Migration, erklärte Heinz Faßmann, Vizerektor für Forschung und Internationales an der Universität Wien und Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der ÖAW im Gespräch mit APA-Science.
Schwieriger wird es da schon bei dem mitunter auch ideologisch hinterlegten Begriff der Integration. Die Wissenschaft habe sich dabei weitestgehend auf die Idee der "Teilhabe" an gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen geeinigt. "Der Teilhabebegriff klingt hochtrabend. Banal gesagt ist es aber einfach die Teilhabe an der Erwerbsarbeit: Also jemand hat einen Job." Die Erwerbstätigkeit stehe deshalb an erster Stelle für das Gelingen von Integration, weil sie auch Voraussetzung für eine Teilhabe am Wohnungsmarkt und am gesellschaftlichen Leben sei (siehe "Studie attestiert Flüchtlingen hohes Integrationspotenzial").
Für ein langfristiges Monitoring von Integration hat Faßmann im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für Integration (NAP.I) Indikatoren entwickelt, um das Thema greifbarer und vor allem messbarer zu machen. Insgesamt gibt es laut dem Statistischen Jahrbuch "Migration & Integration 2016" 25 Integrationsindikatoren (und fünf Kernindikatoren) in sieben Handlungsfeldern, mittels derer der Integrationsprozess laufend analysiert wird (siehe "Wie misst man Integration?").
Rolle der Wissenschaft
Die Wissenschaft habe gerade bei kontrovers verhandelten Themen aufgrund der ihr inhärenten Regeln wie Objektivität, Wiederholbarkeit und Nachweisbarkeit eine wichtige Rolle im Aufklärungsprozess der Gesellschaft und der Politik. "Die Qualität des wissenschaftlichen Wissens ist eben, dass wir Erkenntnisprozesse offenlegen und dass wir unter kontrollierten Bedingungen Erfahrungen sammeln. Und das ist ein unterschiedliches Wissen als das Alltagswissen, wo jeder über Einzelevidenzen und -erlebnisse so tut, als ob das die Realität ist", so Faßmann. "Wir sind klarerweise viel schwächer dabei - das ist aber auch nicht die Aufgabe der Wissenschaft -, der Politik konkrete Maßnahmen vorzuschlagen."
Für den Demographen Wolfgang Lutz ist die Rolle der Wissenschaft in erster Linie, "möglichst objektive und differenzierte Informationen zu liefern". So sollen am neu gegründeten Forschungszentrum für Migrationsforschung, das Lutz seit einigen Monaten leitet, nicht nur unterschiedliche Annahmen zur Zahl der Zuwanderer analysiert werden, sondern auch zum Beispiel die jeweiligen Auswirkungen von höher oder geringer gebildeten Zuwanderern auf die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme.
Mangel an verlässlichen Daten
Die Migrationsforschung sei zwar der politisch sensibelste Bereich der Demographie, gleichzeitig gebe es dabei aber den größten Mangel an verlässlichen Daten. Während Geburten und Todesfälle umfassend von den Standesämtern registriert würden, sei das bei den Migrationsbewegungen häufig nicht der Fall. Und selbst wenn man die Zahl der Migranten kennt, wisse man oft nicht um wen es sich dabei handelt, etwa welche Ausbildung und welchen Beruf die Menschen haben oder welcher Religion sie angehören und welche Sprache sie sprechen. "Mehr und bessere Daten sind also die erste Priorität. Was die Forschungsgebiete betrifft, so ist eine der wichtigsten Fragen, welche Faktoren die Integration fördern und wie hoch die Aufnahmefähigkeit der jeweiligen Zielländer ist", so Lutz.
In die selbe Kerbe schlägt Heinz Faßmann, der einen Bedarf in "einer gewissen Grundlagenforschung" sieht, um Integrationsprozesse auch von einer Generation zur anderen zu verstehen. "Wir brauchen den langen Atem in der Forschung, denn Integration ist eben eine längerfristige Angelegenheit. Wenn man heute beginnt vernünftig Daten zu sammeln, kann man ja erst in 5, 10 oder 15 Jahren ernsthafte Resultate erzielen." Die Gretchenfrage dabei: "Gibt uns die (Wissenschafts-)Politik den langen Atem dazu?"
Eines unter vielen Beispielen, wo die Forschung noch Neuland betritt, ist Migration und Integration im ländlichen Raum. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass 2012 62 Prozent aller ausländischen Staatsangehörigen in Österreich in Städten mit über 20.000 Bewohnern lebten. Die Zahl jener Gemeinden unter 15.000 Einwohnern, in denen der Anteil an Personen mit ausländischer Herkunft über zehn Prozent liegt, ist aber im Steigen. Erste "Sondierungsprojekte" etwa in Niederösterreich und Kärnten zeigen, dass man hier erst am Anfang steht und seitens der Wissenschaft durchaus einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten kann (siehe "'Wer ist der Krampus?' - Forscherinnen gehen Integration am Land nach"). Ähnlich gelagerte Projekte über Migration im ländlichen Raum stehen auch im Fokus des niederösterreichischen Zentrums für Migrationsforschung.
Politik und Wissenschaft
Ob sich wissenschaftliche Erkenntnisse auch in der Realpolitik niederschlagen, liegt für Faßmann an der jeweiligen "Governance". Genau hier hapere es im Bereich der Integrationspolitik jedoch, die in Österreich nicht die effizienteste sei: "Wir haben mit Bund, Länder, Gemeinden unglaublich viele Stakeholder in dem Bereich, und daneben gibt es immer auch Institutionen, die alles besser wissen."
Als Vorsitzender des Expertenrats für Integration im Außenministerium, der direkt mit Politikern zusammenarbeitet, weiß Faßmann durchaus von Frustrationen auf beiden Seiten zu berichten: "Da gibt es den Wissenschafter, der sich zu wenig gehört oder auch missverstanden fühlt, und den Politiker, der unzufrieden ist mit der Wissenschaft, weil sie nicht immer eindeutige Anweisungen gibt, sondern oft 'Sowohl-als-auch'-Antworten bereitstellt." Politiker hätten gerne eine klare Anweisung oder Legitimation in ihren politischen Handlungen durch die Wissenschaft. "Grundsätzlich würde ich sagen - bei all den Frustrationen die beide Seiten erleben-, soll Wissenschaft sich im Sinne einer evidenzorientierten Politik nicht scheuen, an die politische Sphäre heranzutreten."
"Ströme", "Wellen" und individuelle Geschichten
Abseits der politischen und akademischen Diskussionen in Europa machen die Kriege und Krisen im Nahen Osten und Afrika unterdessen Tag für Tag Tausende weitere Menschen heimatlos. Dirk Rupnow, Leiter des Instituts für Zeitgeschichten an der Universität Innsbruck, plädiert dafür, die individuellen Geschichten nicht außer Acht zu lassen, wenn man die geschichtliche Entwicklung in ihrer Gesamtheit betrachtet. Hinter den Begriffen "Wanderungssaldo", "Ströme" und "Wellen" werde vielfach darauf vergessen, Migranten selbst in den historischen Diskurs mit einzubeziehen und sie ihre Geschichten erzählen zu lassen. "Solange wir uns nicht für die Geschichte der Migranten interessieren, bleiben sie uns fremd", sagte Rupnow im Rahmen der Konferenz "Migration - Flucht Vertreibung Integration".
Den Begriff der "Flüchtlingskrise" zu dekonstruieren fordert auch der Politikwissenschafter Vedran Džihić (siehe "Ein Plädoyer für die Erweiterung der Denkzonen"), denn in der Metapher der Krise suggeriere man eine Überforderung Europas, die das Leben der Europäer fundamental - zum Schlechteren - verändere und der man nur durch den Schutz vor den anderen begegnen könne. Historische Vergleiche, etwa mit der Fluchtbewegung aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er-Jahre, könnten dabei helfen, die heutige Situation besser einzuschätzen. Von den 90.000 Menschen aus Bosnien, die versorgt und in Schulen und Arbeitsmarkt integriert wurden, seien 60.000 geblieben, die heute ein "nicht wegzudenkender Teil der Republik" seien.
Ausblick in die Zukunft
Einig sind sich Expertenrat und andere Wissenschafter dabei, "dass die Flüchtlingswelle des letzten Jahres vermutlich recht gut verkraftet wird", wie es Wolfgang Lutz formuliert. Neue Probleme werden aber nicht lange auf sich warten lassen: "Da die Bevölkerung in Afrika noch massiv weiter wächst und man mit dem Schaffen neuer Arbeitsplätze dort kaum nachkommt, da zusätzlich noch Klimawandel und mögliche politische Unruhen dazukommen, müssen wir auch in Zukunft mit einem sehr hohen Migrationspotenzial rechnen. Es ist hoch an der Zeit, dass Europa ein rationale, langfristig orientierte und realistisch durchsetzbare Migrationspolitik entwickelt."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science