"Nachhaltige Entwicklung und Bildung - ein skeptischer Kommentar"
Eigentlich ist es ein Glücksfall für die Pädagogik. Die UNO, die oberste moralische Organisation der Welt, hat sich 2015 darauf geeinigt, bis 2030 auf der ganzen Welt die Armut zu beenden, den Klimawandel zu stoppen und die Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das Programm zur Umsetzung, die "Agenda für nachhaltige Entwicklung", umfasst 17 Ziele, die "Milliarden Menschen auf der ganzen Welt und unserem Planeten eine bessere Zukunft" versprechen. Eines dieser Ziele ist "hochwertige Bildung", die "inklusiv und gleichberechtigt" sein und die Möglichkeiten des "lebenslangen Lernens für alle fördern soll". Was hätte dem Feld der Erziehung und Bildung sowie der akademischen Disziplin, die sich diesem Feld widmet, Besseres widerfahren können?
Der Grund zur Freude in der Pädagogik ist doppelt. Zum einen ist sie explizit als eines neben den anderen 16 Ziele genannt, mit welchen die Welt bis zum Ende der nächsten Dekade besser und gerechter gemacht werden soll, und zum anderen - und das ist hier von Interesse - hängen die anderen 16 Ziele ja mehr oder weniger direkt davon ab, ob es genügend gebildete und damit vernünftige Menschen geben wird, die sich der Umsetzung dieser Ziele tatsächlich verschreiben, wie etwa die sozialen Ungleichheiten auszugleichen und dabei auf eigene Privilegien zu verzichten, den Klimaschutz durch Gesetze und entsprechendes Verhalten umzusetzen oder menschenwürdige Arbeitsverhältnisse für alle zu schaffen, ohne dabei von möglichen Gewinneinbußen abgelenkt zu werden. Auf die Pädagogik kommt letztlich also (fast) alles an, so scheint es.
Das ist gut so, zumindest gut für das pädagogische Feld, dem in politischen Sparrunden immer wieder Kürzungen angedroht wird, und gut für die akademische Disziplin der Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft, welche innerhalb der Universitäten wenig Prestige genießt und der wiederholt die Gefahr droht, zur angewandten Wissenschaft mit engem Bezug zum Lehrberuf degradiert zu werden. In Deutschland beispielsweise soll pädagogisches Wissen - in dieser universitätspolitischen Logik - Professionswissen sein und zum Beispiel weniger darüber reflektieren, warum die Welt so stark auf die Kraft der Erziehung und Bildung baut, wenn sie sich vor Probleme gestellt sieht. Dieser Glaube an die Macht der Erziehung und Bildung scheint uns selbstverständlich geworden zu sein.
Der Glaube, Probleme wie Armut, Ungerechtigkeit oder Klimawandel könnten sich durch gerechte Bildung, die sich nachhaltig auswirkt, lösen, hat eine lange Vorgeschichte. Diese ist aber nicht mit dem Menschen an sich verbunden, und damit auch nicht universell; vielmehr ist sie - schließlich handelt es sich dabei um einen Glauben, nicht um Evidenz - westlich, genauer gesagt christlich und in der Regel sogar protestantisch geprägt. Es ist ein Glaube, der sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts global verbreitet hat, und zwar über internationale Organisationen wie den Völkerbund, dessen Nachfolgeorganisation UNO, der UNESCO, dem IWF, der Weltbank oder auch der OECD. In der Forschung wird dieses Phänomen als die "Pädagogisierung sozialer Probleme" bezeichnet, d.h. als die Vorstellung, dass nicht-pädagogische Probleme wie Armut, Fremdenfeindlichkeit, soziale Ungleichheit oder Ungerechtigkeit pädagogisch zu lösen sind.
Frühe Evidenzen dieser Pädagogisierung finden sich bereits um 1700, als man das Problem der städtischen Armut mit basaler Bildung anzugehen wagte; später im 18. Jahrhundert folgte die Pädagogisierung der Kriminalität (die Idee der Resozialisation statt dem Motiv der Rache) oder die Idee, dass Republiken wie die USA tugendhafte Bürger (citizens) bräuchten, die entsprechend erzogen werden müssten. Insgesamt ist das 19. Jahrhundert ein Ausdruck dafür, wie die Nationalstaatenbildung darauf angewiesen schien, über die Schulsysteme loyale Bürgerinnen und Bürger zu bilden. Auf den kulturellen Schock, den die Sowjetunion 1957 mit Sputnik, dem ersten Satelliten im Weltall, in den USA auslösten, folgte dort eine nationale Schulreform, und auf die Umweltverschmutzung in den 1960er-Jahren folgte die Umwelterziehung, auf die ungewollten Schwangerschaften bei Minderjährigen in der Folge der sexuellen Revolution die Sexualerziehung, und auf die fremdenfeindlichen Tendenzen um 2000 folgte die Toleranzerziehung und auf die große Weltwirtschaftskrise 2007 -2009 das Desiderat der entrepreneurship education, die heute als Vermittlung wirtschaftlicher Kompetenz diskutiert wird. Es gibt heute kaum eine Problemwahrnehmung, die nicht fast automatisch an das Feld der Erziehung und Bildung überwiesen wird.
Eine Ausnahme allerdings gibt es, nämlich das Problem, wie das Feld der Erziehung und Bildung all diese ihr übertragenen Probleme lösen können soll. Die Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft hat dabei das Feld in der Regel kläglich im Stich gelassen. Nicht, dass sie untätig geblieben wäre, ganz im Gegenteil. Sie hat mit eigenen Forschungsfeldern und Professuren reagiert: Sie hießen Kriminalpädagogik, Heilpädagogik oder Sozialpädagogik, später gab es Ausländerpädagogik oder Berufspädagogik und Wirtschaftspädagogik, dann hießen sie Migrationspädagogik, Inklusionspädagogik oder Erwachsenenbildung und Bildung und Ungleichheit oder auch Lebenslanges Lernen. Mangelnde Sensibilität kann man der Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft also nicht vorwerfen, wohl aber mangelnde Reflexivität hinsichtlich eben dieser Sensibilität, die sich leicht als Servilität entpuppen könnte: Schmeichelnd Dinge versprechen, die an sich nicht leistbar sind.
Servilität ist nicht einfach nur verwerflich, denn schließlich sind Versprechen Reaktionen auf dominante Erwartungshaltungen, nach welchen Probleme schlicht Sachverhalte darstellen, die es zu lösen gilt. Die Frage ist allerdings, warum es der akademischen Reflexion nicht besser gelungen ist, unverhältnismäßige Ansprüche an das Feld als solche zu benennen und - ein zentraler pädagogischer Ratschlag! - in einem Akt von Selbstbegrenzung auch einmal NEIN sagen zu können. Das gelingt ihr vermutlich deswegen nicht, weil sie aus demselben kulturellen Milieu entstammt wie die Sachverhalte, die plötzlich als "Probleme" definiert werden, die es auf Erden zu lösen gilt, also Ungleichheit, Armut oder Ungerechtigkeit. Die Lösung, Erziehung und Bildung, ist wohl schon in der Problemdefinition enthalten, weswegen es in der Pädagogik nie nur um Wissen und um Teilhabe an der gesellschaftlichen Welt in ihrer Entwicklung geht, sondern immer auch darum, und in der Regel zuerst, um die moralische Versicherung und Ordnung innerhalb dieser Entwicklung.
Das sind, wenn wir ehrlich sind, zu viele Ansprüche. Die auf 2030 angesetzte "Agenda für nachhaltige Entwicklung" ist nämlich nicht eine Problemdefinition, die einfach auf Lösung aus ist, sondern auf Er-Lösung. Diese Dimension von Hoffnung ist für das im Mantel der höflichen Diplomatie versteckte unbändige Gebaren (inter)nationaler Machtpolitik vermutlich angemessen, in ihrer Pastoralität aber für die Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft zu verführerisch. Geblendet durch ihre scheinbare Wichtigkeit bürdet sie sich zu viel auf und wird darin erneut scheitern, weiter Prestige verlieren und das pädagogische Feld in diesem Sinne alleine lassen, als dass dieses verstärkt unter ökonomische Sachzwänge kommen wird, je länger die Erlösung auf sich warten lässt. Ob es sich nicht einmal lohnen würde, die pädagogisierten Ansprüche in ihrer Entstehung und Auswirkungen zu untersuchen? Die "Agenda für nachhaltige Entwicklung" könnte ein guter Anlass dazu zu sein.