Smarter Transport braucht Kooperation: Der lange Weg zum "Physical Internet"
In der Vision des "Physical Internet" suchen sich die Ladeeinheiten den Weg ins Transportsystem selbst. Bis es soweit ist, muss sich im Güterverkehr aber noch einiges ändern. Weshalb Kooperationswillen und Digitalisierung unbedingte Voraussetzungen sind, viele Beteiligte ihren Kopf in den Sand stecken, man bei Platoons nicht immer nur an Lkws denken sollte und bei der City Logistik den Projekten Taten folgen müssen, erklärte Matthias Prandtstetter vom AIT Austrian Institute of Technology.
Beim "Physical Internet" gehe es darum, den Datenverkehr, den man im klassischen Internet hat, in der Transportlogistik nachzuahmen. Das heißt, Pakete suchen sich selbst den Weg durch das Netzwerk. Die Verteilzentren treffen Entscheidungen dezentral. "Es gibt keine Vorgabe vom Sender, außer vielleicht möglichst kostengünstig oder bis zu einem gewissen Zeitpunkt am Ziel zu sein. Ob die Ware mit dem Lkw, Zug, Schiff, Flugzeug oder einem anderen Verkehrsmittel transportiert wird, ist dem Verlader und dem Empfänger egal", so Prandtstetter im Gespräch mit APA-Science.
Die European Technology Platform ALICE will die Vision des "Physical Internet", für den Experten "das Leuchtturmprojekt der europäischen Logistikforschung", bis zum Jahr 2030 umsetzen. Voraussetzung dafür sei eine horizontale Kooperation zwischen eigentlich konkurrierenden Betrieben, also Frächtern, Eisenbahnunternehmen oder Reedereien, die quasi Mitfahrbörsen für Güter oder ähnliche Konzepte umsetzen. Datenaustausch und Digitalisierung im echten Sinne – nicht der Ersatz von Papier durch ein digitales Dokument – sind weitere Schlagworte in diesem Bereich.
Das gestalte sich allerdings schwierig, weil die Transportlogistiker im operativen Bereich, also im täglichen Geschäft, mit ganz anderen Themen beschäftigt seien. "Im Vordergrund steht: Wie kann ich billiger sein als der Mitbewerb?", erläuterte der Forscher. Dieses Ziel konkurriere mit dem Mangel an Lkw-Fahrern, dem man klassisch mit höheren Gehältern begegnen müsste. Die Branche würde sich also eher mit Problemen, die sich aus dem aktuellen System ergeben, beschäftigen als mit der Zukunft. Neben einigen risikobereiten Unternehmen, die aktiv an innovativen Projekten teilnehmen, gebe es viele, die ihren Kopf im Sand vergraben und die Zusammenarbeit mit Konkurrenten generell ablehnen.
White-Label-Lösungen für die City Logistik
Ein Versuch, solche horizontalen Kooperationen voranzutreiben, wurde beispielsweise mit dem Projekt GrazLog unternommen. Konkret geht es dabei um einen City Hub, an den alle Transporteure zuliefern. Von dort aus wird durch einen gemeinsamen, neutralen Zusteller (White Label) die letzte Meile realisiert. Das könnte die Stadt Graz sein oder ein Dienstleister, der den Zuschlag für einen ausgeschriebenen Transportauftrag bekommt. Die bisherigen Erkenntnisse würden zeigen, dass die Empfänger keinen unnötigen Aufwand haben wollen, um an die Ware zu kommen. Wenn man aber ohnehin regelmäßig an einer Paketwand vorbei komme, stelle auch dieser Weg kein Problem dar.
Ein Vorteil so eines Hubs sei beispielsweise, dass es lange Öffnungszeiten gebe und Post, DPD, TNT und Co. daher keine Rücksicht auf bestimmte Lieferfenster – wie in Fußgängerzonen üblich – nehmen müssten. Die Zustellung zu den Geschäften wird dann durch den City Hub realisiert. "Man darf aber nicht vergessen – und das wird ganz konkret von Paketdienstleistern genannt –, dass man den Kontakt zum Endkunden und damit an Sichtbarkeit verliert", so Prandtstetter. Außerdem wird befürchtet, dass, wenn dem Drittdienstleister auf der letzten Meile etwas passiert, etwa eine Beschädigung oder Verspätung, es auf die eigene Marke zurückfällt.
Eine White-Label-Lösung steht auch beim Projekt aIBOX im Mittelpunkt. Dabei geht es um Paketwände, die bei einem Wohnhaus oder auch beim Hauptplatz, Bahnhof oder einem Nahversorger aufgestellt werden können. Hier darf jeder, der einen entsprechenden Zugangscode hat, einlagern. Alle verwenden die gleiche Box, die von einem neutralen Anbieter zur Verfügung gestellt wird. "Auch das ist eine Möglichkeit, Kooperationen voranzutreiben, ohne dass die beteiligten Unternehmen überhaupt miteinander sprechen müssen", sagte der Fachmann. Hier dürfte es kein Problem mit dem Wettbewerbsrecht geben, weil sich die Unternehmen nicht untereinander absprechen.
Wettbewerbsrecht versus Kooperation
Das sei ein wichtiger Punkt: Ist es überhaupt möglich, dass konkurrierende Unternehmen zusammenarbeiten? "Das Problem ist, dass es hier einen Ansatz braucht, der weit über die Logistikforschung hinausgeht. Und wenn man von der Wettbewerbsbehörde eine Aussage bekommen will, dann gilt dort: Solange es keinen konkreten Anlassfall gibt, wird auch nicht geprüft." Daher sei es der gesamten logistikforschenden Community noch nicht geglückt, hier eine rechtsgültige Aussage zu bekommen, an welche Regeln man sich halten muss. Das habe natürlich Einfluss auf die Risikobereitschaft der Beteiligten.
Ein starker Forschungsschwerpunkt sei hierzulande in den vergangenen Jahren auf dem Bereich City Logistik gelegen. Dabei gebe es viele Diskussionen und Konzepte wie man in der Stadt zustellen kann. "Was sie alle gemeinsam haben: Es bedarf eines zusätzlichen Umschlags", so Prandtstetter. Schließlich sei es weder sinnvoll, noch machbar, mit dem 40-Tonner mit Anhänger in die Innenstadt zu fahren. Für die letzte Meile müsse berücksichtigt werden, welches Gut mit welchen Anforderungen und Frequenzen zu transportieren sei. Daraus leite sich das passende Fahrzeug ab. "Wenn ich eine Tonne in die Stadt transportieren muss, dann werde ich mit dem Lastenfahrrad nicht weit kommen. Da nimmt man den Lkw und greift auf die Elektrifizierung zurück, um eine schadstoffarme Zustellung hinzubekommen", erklärte der Experte.
Überhaupt werde der E-Lkw inzwischen verstärkt diskutiert – von der Zustellung mit Sprintern, also leichten Nutzfahrzeugen, bis zu Schwerlast-Lkw, für die die Elektrifizierung derzeit erforscht und entwickelt wird. "Es tut sich da momentan sehr viel. Die Technologie wird effizienter, kostengünstiger und anwendbarer. Ob es dann wirklich der batteriebetriebene E-Lkw oder doch ein Wasserstofffahrzeug wird, ist offen. Es setzt sich ja nicht immer die bessere Technologie durch, manchmal geht es um das bessere Marketing oder den richtigen Zeitpunkt", sagte der Forscher. Die Dekarbonisierung werde jedenfalls nicht allein durch einen E-Lkw realisierbar sein: "Da braucht es schon mehr: Kooperation, Effizienzsteigerung und die Verlagerung auf die Schiene."
Baustellen per Schiff beliefern
Immer wieder Thema sei auch die "Güter-Bim". Hier müsse man aber aufpassen, beispielsweise den Personenverkehr nicht allzu sehr einzuschränken. "Wenn ich einen Straßenbahn-Waggon auf die Schiene stelle, den Billa damit beliefere und 20 Minuten vor der Filiale stehen bleibe, hat das Auswirkungen. Nicht jede Theorie, die für sich genommen gut ist, ist im Gesamtverkehrssystem dann wirklich relevant. Da braucht es einen systemischen Blick", meinte der AIT-Experte. Man müsse sich anschauen, welche Voraussetzungen gegeben seien und überlegen, welches System hier funktionieren würde. In Paris werden laut Prandtstetter Baustellen mit dem Schiff beliefert, so dass nur die letzte Meile vom Seine-Ufer bis zum konkreten Einsatzplatz vom Lkw übernommen wird. Die Donau hingegen fließe nicht direkt durch Wien, sei dafür also weniger geeignet.
Als möglicher Umschlagsplatz in der Bundeshauptstadt ist immer wieder der Hafen Wien im Gespräch. "Der ist verkehrstechnisch perfekt angebunden, besser kann man es sich fast nicht vorstellen. Und er ist relativ nahe an der Stadt", erklärte der Forscher. Schon vor Jahren sei in einem Projekt untersucht worden, ob man vom Hafen aus Biokisten elektrisch zustellen kann. Damals waren den Angaben zufolge mindestens 80 Prozent der Kunden erreichbar. Auch abseits davon würden sich hier Möglichkeiten bieten, wie man einen effizienten Transport gestalten kann: die lange Distanz bis zum Hafen Wien und die letzte Meile elektrisch mit entsprechend kleinen Fahrzeugen, die leicht durch die Stadt kommen.
Natürlich koste jeder Umschlag Zeit und Geld. Die Forschungsergebnisse würden aber eher dahin gehen, dass sich durch die Kooperation und die damit verbundene Kostenersparnis der zusätzliche Umschlag amortisiert, weil dann nur mehr ein spezielles Fahrzeug beispielsweise in den ersten Bezirk fährt und die Waren von verschiedenen Lieferanten zustellt. "Das ist momentan mehr eine theoretische Rechnung als ein empirischer Versuch und ein Unsicherheitsfaktor. Vieles ist erforscht und in Demonstrationen erprobt, aber der großflächige Realbetrieb ist noch nicht gestartet worden" so Prandtstetter gegenüber APA-Science.
KEP-Dienste relativ effizient unterwegs
Eine gewisse "Mehrgleisigkeit" gebe es bei den KEP-Diensten (Kurier/Express/Paket) – befeuert durch den Online-Boom. Sie seien im innerstädtischen Bereich aber relativ effizient unterwegs, hätten eine sehr gute Auslastung und hohe Stopp-Dichte, wie auch eine WU-Studie (siehe "Online-Handel: Verkehrsanteil von Paketdiensten in Wien sehr gering") zeige. "Ob ich die Ware transportieren lasse oder selbst in einem Geschäft abhole, ist im Prinzip egal. Die Ware muss zum Kunden kommen und das funktioniert über einen Zusteller vielleicht sogar effizienter", erklärte der Fachmann. Es gebe aber auch negative Auswirkungen des Online-Handels, wie das Geschäftssterben: "Ob das toll ist, wenn ich durch ein leeres Viertel gehe und ob die Stadt dann noch lebenswert ist, muss man sich anschauen."
Regulative Eingriffe – etwa Fahrverbote – seien derzeit nicht in Sicht. "Die Hoffnung besteht, dass auch so ein effizientes System gefunden wird und sich die Logistik selbst anpasst", sagte Prandtstetter. Es gebe bereits viele Beispiele, was gut funktioniert beziehungsweise welche Kombinationen Sinn machen. "Was es jetzt bedarf, ist die Umsetzung. Das was noch fehlt, ist einer, der es tut und den anderen zeigt, dass es geht", sagte der Forscher. Die neuen Technologien würden viele Chancen bieten, man dürfe sie nur nicht dafür verwenden, das alte Logistiksystem einfach weiterzubetreiben.
Vielmehr müssten ein neues Logistiksystem geschaffen und neue Konzepte auf den Markt gebracht werden, um die Effizienz zu erhöhen. "Das heißt aber nicht nur kostengünstiger, sondern da geht es auch um CO2-Einsparung, soziale Verträglichkeit und entsprechende Raumnutzung. Die Frage ist: Brauche ich in der Stadt noch viele Ladezonen und Parkplätze oder kann ich darauf verzichten, weil mein System darauf ausgelegt ist?", so der Forscher. In der Schweiz gebe es das Konzept Cargo sous terrain, bei dem der Idee nachgegangen wird, den Güterverkehr unter die Erde zu verlegen – mehr oder weniger in Tunnels. "Die Oberfläche könnte man dann für Grünanlagen, Schanigärten und Fahrradwege nutzen. Das wäre ein neues System und nicht mit neuen Technologien am alten schrauben."
"Zug ist im Prinzip ein Platoon"
Manche würden Innovationen auch dazu verwenden, operative Probleme zu lösen, etwa teure Lkw-Fahrer zu ersetzen. So sei ein Platoon auf den ersten Blick eigentlich eine geniale Idee: Mehrere Lkws fahren mit geringem Abstand und haben dadurch weniger Luftwiderstand, wodurch Sprit und CO2 eingespart werden können. "Auf den zweiten Blick stelle ich die Frage: Warum fahre ich dann nicht auf der Schiene, weil ein Zug im Prinzip ja nichts anderes als ein Platoon ist. Es geht um mehrere einzelne Behältnisse, die gemeinsam unterwegs sind", vergleicht der Forscher. Wenn man einen Schritt weitergehe und das so mit automatisiertem Fahren verknüpfe, dass im Endeffekt vorne ein Fahrer sitze und die anderen Lkws dahinter automatisch nachfahren, dann sei das auch nichts anderes als ein Zug.
Und mit den Tests in Deutschland, Lkw auf der Autobahn über Oberleitungen zu elektrifizieren, habe man bis auf die Schienen den Zug komplett nachgebaut. "Warum kann man dann nicht gleich mit dem Zug transportieren?", fragt sich Prandtstetter. Da gebe es zwar die Argumente, dass man hier einen zusätzlichen Umschlag habe. Denn bei einem Lkw-Platoon könne sich ein Fahrzeug ausreihen und der restliche Platoon fährt weiter. "Wenn man das weiterdenkt, ließe sich das gleiche auch beim Schienenverkehr realisieren. Macht doch einfach einen Zug, bei dem man sich in jedem Bahnhof einfach ausklinken kann und der restliche Zug weiter fährt", so der Experte. Es sei auch möglich, das mit neuen Technologien zu verbinden, also selbstverschiebenden Waggons oder automatischen Loks im Verschub.
"Was wir als Forscher versuchen, ist Technologien zu entwickeln, vorzuschlagen und zu hoffen, dass sie von jemand verwendet, anderen kopiert und so zum Standard werden. Man muss das Logistiksystem neu denken, nicht Teile des Systems durch andere Teile technisch ersetzen", ist Prandtstetter überzeugt.
Von Stefan Thaler / APA-Science