Technik und Tradition in Kombination zur Wiederbelebung bedrohter Sprachen in Europa
Versuch einer Rettung von vom Aussterben bedrohter europäischer Sprachen, die teilweise nur noch von einer Handvoll Menschen gesprochen werden.
Wie Zivilisationen auch entstehen, vergehen und verschwinden Sprachen. Selbst in Europa, das sich um den Erhalt seiner sprachlichen Vielfalt bemüht, stehen Dutzende von Regionalsprachen vor dem Aussterben. Doch die Arbeit von Experten wie Justyna Olko könnte dazu beitragen, dies zu ändern. Als Teenager in den 1990er Jahren war Olko von den indigenen Kulturen Amerikas fasziniert. Das veranlasste sie zu einem Archäologiestudium an der Universität Warschau. Nach dem Postgraduiertenstudium über das Volk der Nahua in Zentralmexiko wurde ihr allerdings klar, dass ihre wahre Berufung die Soziolinguistik und Geschichte indigener Völker ist.
„In gewisser Weise brachte mich Nahuatl zurück nach Polen, wo ich die Probleme sprachlicher Diskriminierung und der Gefährdung von Sprachen erkannte“, so die polnische Historikerin und Soziolinguistin. 2012 erhielt Olko ein Stipendium für ein dreijähriges Projekt über die Kultur und Sprache der Nahua, die sie, mit der Erforschung von Modellen zu deren Wiederbelebung, zu sprechen lernte. Darüber hinaus befasste sich das Projekt auch mit Minderheitensprachen aus dem Süden Polens, die von weit weniger Menschen gesprochen werden: Zu nennen wären Lemko, mit etwa 11 000 Sprechern, und Wymysiöerys, mit einigen Dutzend Sprechern. Olko hat etwas Lemko gelernt und will auch Wymysiöerys lernen.
Bedroht oder gefährdet
Heute ist Olko Professorin an der Universität Warschau und hat ihre Arbeit zur Erhaltung von Sprachen durch eine Reihe von Projekten zu Minderheitensprachen und deren Wiederbelebung erweitert, wie das von der EU finanzierte „ENGHUM“-Projekt, welches sie bis Dezember 2018 drei Jahre leitete. Die kritische Schwelle für das Überleben einer Sprache wird auf 300 000 Sprecher geschätzt. Nach Angaben der UNESCO gibt es in der EU 221 bedrohte Regional- und Minderheitensprachen.
Während in der Vergangenheit der Grund dafür in der repressiven Sprachpolitik dominierender ethnischer Gruppen und Nationalstaaten gelegen haben mag, ist es heutzutage die schwindende Zahl von Muttersprachlern, die die Minderheitensprache nicht mehr mit ihren Kindern sprechen. Die Erhaltung von Sprachen, so Olko, sei von entscheidender Bedeutung für die Bewahrung von Identitätsgefühl, emotionaler Bindung und des in ihnen kodierten jahrhundertealten Wissens, aber auch für die Verbesserung des Wohlbefindens und der Kommunikation zwischen den Generationen. „Wenn man sieht, dass ältere Generationen in der Traditionssprache miteinander kommunizieren, Kinder aber in der vorherrschenden Sprache ansprechen, werden die Kinder von der vertrauten Kommunikationswelt und dem Gemeinschaftsgefühl ausgeschlossen“, sagte sie.
Zusammengehörigkeitsgefühl
Das „ENGHUM“-Team konzentriert sich vor allem auf Minderheitensprachen in Polen und auf indigene Sprachen in Mexiko (Nahuatl, Mixtec, Ayuuk), will aber auch die Anerkennung bedrohter Sprachen im Allgemeinen ausweiten. Neben Soziolinguisten und Anthropologen brachten die „ENGHUM“-Forscher auch Vertreter lokaler Gemeinschaften in einer Vielzahl von Workshops, Feldschulen und kulturellen Veranstaltungen in Europa und Mexiko zur persönlichen Interaktion sowie zum Erfahrungs- und Wissensaustausch zusammen.
„Dies war wichtig, um den Mitgliedern dieser Gemeinschaften zu zeigen, dass sie nicht allein sind und jeweils mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben“, so Olko.
Angeregt durch diesen Austausch schufen viele Gemeinschaftsmitglieder ihre eigenen sozialen Netzwerke, um in Kontakt zu bleiben und weiterhin Ressourcen auszutauschen.
Olko räumte ein, dass die Wiederbelebung von Sprachen angesichts des Erstarkens der politischen Rechten und nationalistischer Identitätspolitik in Europa heute eine größere Herausforderung darstellt. So legte der polnische Präsident Andrzej Duda im Mai dieses Jahres sein Veto gegen ein Gesetz ein, mit dem Schlesisch, das von fast 500 000 Menschen im Südwesten Polens gesprochen wird, offiziell anerkannt worden wäre.
Deshalb, so Olko, sei es umso wichtiger, die Bemühungen um den Erhalt und die Nachhaltigkeit solcher Sprachen zu verstärken. Aus diesem Grund hat das „ENGHUM“-Team das „Center for Research and Practice in Cultural Continuity“ an der Universität Warschau gegründet. Bald darauf wurden neue Initiativen ins Leben gerufen, um gefährdete Sprachen zu beleuchten und die Zahl der erfassten Sprachen zu erweitern. Dazu gehört das kürzlich gestartete, von der EU finanzierte Sprachenprojekt „MULTILING-HIST“. „Dieser Vorstoß ist einsatzorientiert“, sagte Olko. „Wir beginnen mit neuen Partnern, setzen die Zusammenarbeit mit alten Partnern fort und entwickeln Netzwerke. Ich habe die Zusammenarbeit mit keiner einzigen Gemeinschaft, mit der ich angefangen habe zu arbeiten, beendet.“
Vielfältige Schwerpunkte
Auch andere Experten in Europa erkennen an, wie wichtig der Erhalt von Minderheitensprachen ist. Im Rahmen dieser Bemühungen konzentriert sich die von der EU finanzierte Gemeinschaftsinitiative „RISE UP“, die bis Januar 2026 läuft, auf die Wiederbelebung von fünf dieser Sprachen: Aranesisch in Spanien und Frankreich; Aromanisch auf dem Balkan; Burgenlandkroatisch in Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn und der Slowakei; Cornisch im Vereinigten Königreich; und Seto in Estland und Russland. „Wir haben Fallstudien ausgewählt, die in ihrem Umfeld sehr unterschiedlich sind“, sagt Gisela Hagmair, Expertin für angewandte Linguistik und Sprachenpolitik bei der gemeinnützigen Forschungs- und Innovationsorganisation „Minds & Sparks“ in Wien, die die Initiative koordiniert.
Jede der fünf Sprachen hat einen unterschiedlichen Status und Gefährdungsgrad. So ist beispielsweise Aranesisch offiziell als dritte Sprache Kataloniens anerkannt, während Seto in Estland nicht einmal als Sprache anerkannt wird. Während die Sprecher des Aromanischen, welches viele Merkmale mit dem modernen Rumänischen gemeinsam hat, über den südlichen Balkan verstreut sind, da sie traditionell Wanderschäfer und Händler waren, wurden in den letzten Jahren Bemühungen unternommen, das faktisch ausgestorbene Cornish wiederzubeleben.
Wie „ENGHUM“ arbeiten auch Hagmair und ihr Team daran, Menschen zu verbinden und zu sensibilisieren. Im Rahmen einer Initiative wurden im Mai dieses Jahres ein Musiker oder Dichter aus jeder Sprachgemeinschaft für einen einwöchigen Aufenthalt in Barcelona ausgewählt. Jeder von ihnen schuf ein Werk in seiner eigenen Sprache, inspiriert von den Landschaften und Volksgeschichten seiner Heimat, untermalt mit Vogelgesang. Gemeinsam komponierten sie auch „Woodpeckers“, eine Komposition, die alle fünf Sprachen mit Naturklängen verbindet.
„Durch die Arbeit mit den Gemeinschaften tragen derartige Initiativen dazu bei, die Sichtbarkeit zu erhöhen, aber sie geben ihnen auch etwas zurück“, sagte Violeta Heinze, Forschungsanalystin bei „Minds & Sparks“, die auch an „RISE UP“ mitarbeitet. Im Einklang mit den Trends des 21. Jahrhunderts hat das Team Online-Workshops zu Themen wie der Entwicklung von Gemeinschaften für Sprachaktivismus und digitalen Tools zur Unterstützung von Minderheitensprachen veranstaltet. Dazu gehörten Präsentationen von Aktivisten und Gemeinschaftsmitgliedern, die eine Reihe beliebter Social Media-Kanälen nutzten, um für ihre Sprachen zu werben.
Die nächste Generation
Darüber hinaus haben die „RISE UP“-Forscher ein digitales Ressourcenspeichersystem erstellt und entwickeln derzeit eine App, mit der Gemeinschaften interagieren und Lernressourcen erstellen können. Außerdem wird es ein Belohnungssystem geben, mit dem Nutzer Aufgaben in der erlernten Sprache erledigen können, z. B. die Bestellung von Essen in einem Café. Ein Ziel dieser Online-Aktivitäten ist es, junge Menschen dazu zu bringen, sich mit ihren regionalen Sprachen zu beschäftigen, die oft überwiegend von älteren Generationen gesprochen werden.
„Das ist eines der Dinge, die mich faszinieren“, sagt Hagmair. „Was also ist nötig, um diese Sprachen für junge Menschen wieder attraktiver zu machen?“
„RISE UP“ arbeitet auch an Plänen zur Synchronisierung beliebter Fernsehsendungen in Minderheitensprachen und will im nächsten Jahr einen runden Tisch organisieren, der hoffentlich auch Entscheidungsträger auf europäischer und lokaler Ebene anspricht. Dies sei wichtig für die Erweiterung der Diskussion und des Bewusstseins, stellt Hagmair, die noch einen weiteren wichtigen Grund für die Erhaltung von Minderheitensprachen nannte, fest. „Beim Übersetzen stellt man manchmal fest, dass einige Sätze nicht ganz genau übersetzt werden können“, sagt sie. „Der Verlust von Sprachen bedeutet, dass das Wissen und der Reichtum der Kulturen verloren gehen.“
Artikel von Gareth Willmer
Recherchen zu diesem Artikel wurden vom Horizon-Programm der EU gefördert. Die Ansichten der Befragten spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Kommission wider. Dieser Artikel wurde ursprünglich in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.