Die Wissenschaft lüftet den Vorhang zur Geschichte des europäischen Puppentheaters
EU-finanzierte Forscher untersuchen die vielfältige Tradition des Puppenspiels in Europa seit dem 17. Jahrhundert und seinen Beitrag zur Prägung der kulturellen Identität Europas.
Professor Didier Plassard ist ein führender Wissenschaftler auf dem Gebiet der Theaterwissenschaften und des Puppenspiels an der Paul-Valéry-Universität Montpellier 3 in Frankreich. In den letzten fünf Jahren hat er sich mit der reichen Geschichte des Puppentheaters in Europa und dessen Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen kulturellen Identität befasst. „Puppen haben dazu beigetragen, ein gemeinsames kulturelles Bewusstsein in Europa zu schaffen“, sagt Plassard.
Kompendium des Puppentheaters
Plassard leitet ein sechsjähriges, von der EU finanziertes Projekt namens PuppetPlays, das darauf abzielt, Puppen- und Marionettenspiele aus ganz Westeuropa vom 17. Jahrhundert bis heute zu sammeln und zu erforschen. Durch die Sammlung und Analyse von Puppentheateraufführungen, die in den vergangenen 500 Jahren durch Europa tourten, die Erstellung eines Repertoires an Stücken und die Erfassung und Übersetzung von Texten möchte Plassard zu weiteren Studien und einem tieferen Verständnis dieser Kunstform anregen.
Bis zum Abschluss von Plassards Projekt im Jahr 2025 soll ein Katalog mit etwa 1.000 dokumentierten Werken aus Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Portugal, Spanien, der Schweiz und Großbritannien erstellt werden. Zudem wird eine Online-Anthologie mit 300 bisher unveröffentlichten oder in Vergessenheit geratenen Stücken veröffentlicht. Der stetig wachsende Online-Katalog ermöglicht eine Suche nach Sprache, Land, Autor und Aufführungsart – zum Beispiel Handpuppen, Faden-Marionetten, Schattentheater oder Objekttheater.
Universelle Anziehungskraft
Mit ihrer visuellen Eindrücklichkeit und der Fähigkeit, Emotionen auf eine Weise zu vermitteln, die ein breites Publikum anspricht, üben Puppen seit jeher eine ungebrochene Anziehungskraft aus. Das Puppenspiel gehört zu den ältesten Theaterformen und wird seit jeher eingesetzt, um komplexe und bedeutende Themen auf unterhaltsame Weise zu vermitteln. Laut Plassard liegt ein Teil der Anziehungskraft in der Zugänglichkeit des Mediums.
„Die Menschen fühlen sich beim Puppentheater wohl, sie haben keine Angst davor, es nicht zu verstehen. Stücke können völlig ohne Worte auskommen, indem sie ausschließlich durch Bilder und Bewegung erzählt werden. Deshalb lässt es sich leicht über Ländergrenzen hinweg verbreiten“, erklärt er. Der nomadische Charakter ist ein bemerkenswerter Aspekt des Puppenspiels in Westeuropa. „Im 18. und 19. Jahrhundert war das wandernde Puppentheater die einzige Theaterform für Menschen außerhalb der großen Städte und zugleich die einzige erschwingliche Unterhaltungsmöglichkeit für viele“, so Plassard.
Europäisches Kulturerbe
Das Puppenspiel bediente sich oft Geschichten aus dem klassischen Theater und führte Werke von Shakespeare, die Geschichte von Don Quijote, Faust und viele weitere auf, darunter auch Komödien und Dramen, die von den Puppenspielern selbst verfasst wurden. „Diese Aufführungen wurden auf dem gesamten Kontinent für Menschen aller Gesellschaftsschichten und Altersgruppen präsentiert und trugen maßgeblich zur Entstehung einer europäischen Identität bei“, sagt Plassard. Er führt das Beispiel von Angelo Cuccoli an, einem bekannten Puppenspieler aus Bologna, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts täglich auf der Piazza Grande in Bologna auftrat. Mit einfachen Handpuppen führte er eine Vielzahl von Stücken auf, darunter Tragödien von Sophokles, die nicht als Parodien, sondern als Dramen dargestellt wurden.
Eines der bekanntesten Puppentheater, das sizilianische Puppentheater, die Opera dei Pupi (sizilianisches Marionettentheater), das 2001 von der UNESCO als Immaterielles Kulturerbe anerkannt wurde. Dieses entstand Anfang des 19. Jahrhunderts in Sizilien und erfreute sich bei der Arbeiterklasse der Insel großer Beliebtheit. Die kunstvoll gestalteten Marionetten der Opera dei Pupi erreichen manchmal eine Höhe von über einem Meter. Ihre täglichen Aufführungen in Dörfern auf der ganzen Insel wurden zu einem zentralen Bestandteil der sizilianischen Volkskultur. Sie erzählten Geschichten, die auf mittelalterlicher Ritterliteratur und anderen Quellen basierten, wie den Stücken Shakespeares, dem Leben der Heiligen und Geschichten über berüchtigte Banditen.
Von der Vergangenheit zur Gegenwart
Zu Plassards Vision gehörte auch, zeitgenössische europäische Puppenspieler zusammenzubringen. Eine dieser Puppenspielerinnen ist Marta Cuscunà, eine preisgekrönte italienische Theaterkünstlerin, die die Kraft des Puppenspiels einsetzt, um sozial und politisch brisante Themen zu behandeln. In ihrer Produktion ‚Es ist schön, frei zu leben‘ erzählt sie die Geschichte von Ondina Peteani, einer Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg, die aus Cuscunàs Heimatstadt Monfalcone stammt. Cuscunàs Werk ist nun ebenfalls Teil des digitalen Katalogs von PuppetPlays.
Cuscunà schuf eine Puppe von Peteani, die sie in ihrem Ein-Frau-Stück auf der Bühne begleitet. Dies ermöglichte es ihr, Peteanis Zeit in Auschwitz und ihr Leiden authentischer darzustellen, als es mit menschlichen Schauspielern möglich gewesen wäre. „Ich denke, Puppen helfen mir, über die Sprache hinauszugehen“, meint Cuscunà. „Ich hatte Schwierigkeiten, diesen Teil ihres Lebens auf die Bühne zu bringen, aber ich habe festgestellt, dass man mit einer Puppe machen kann, was man will– man kann Symbole erschaffen, die kraftvoll sind, weil es keine Grenzen gibt.“ [Zitat:12909]
Wie Plassard stellt auch Cuscunà fest, dass Puppen für das Publikum nicht bedrohlich sind, selbst bei schwierigen Themen. „Es sind ja nur Puppen. Sie können niemandem etwas anhaben. Dadurch lassen sich auch schwierige Themen auf indirekte Weise behandeln“, fügt Cuscunà hinzu, die ihre eigenen Puppen verwendet, um Feminismus, Politik und soziale Ungerechtigkeit zu thematisieren. Für Cuscunà hat die durch EU-Fördermittel ermöglichte Gelegenheit, Puppenspieler aus anderen Ländern zu treffen und deren Arbeit kennenzulernen, spannende neue Möglichkeiten zur Zusammenarbeit eröffnet.
Ständige Weiterentwicklung
Das Puppenspiel hat in Europa eine reiche Tradition, und sein Beitrag zur Kultur entwickelt sich kontinuierlich weiter. Dies zeigt sich auch im heutigen Kino, wo Puppenspieler zur Entstehung und Entwicklung von Animationsfilmen beigetragen haben. Sie gehören zum Beispiel zu den Teams, die mithilfe von Motion Capture imaginäre Wesen zum Leben erwecken, wie etwa Gollum in Der Herr der Ringe.
Puppenspieler haben sich von der kleinen Bühne zu großen Theatererfolgen entwickelt, wobei innovatives Theaterpuppenspiel das Publikum in ganz Europa in Produktionen wie ‚Der König der Löwen‘ und ‚War Horse‘ begeistert. „Da Puppen und Marionetten gleichzeitig ein Objekt und das Abbild eines lebenden Wesens sind, stellen sie eine bedeutende Inspirationsquelle für viele bildende Künstler dar“, fügt Plassard abschließend hinzu.
Von Ali Jones
Weitere Informationen
- PuppetPlays
- Projektwebsite PuppetPlays
- Kulturerbe in der EU-Politik
- Forschung und Innovation in den Bereichen Kulturerbe und Kultur- und Kreativwirtschaft
Die in diesem Artikel vorgestellte Forschung wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert. Die Ansichten der Interviewpartner entsprechen nicht notwendigerweise denen der Europäischen Kommission. Dieser Artikel wurde ursprünglich in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.