Naturprinzipien in die (Bau)-Technik
Ein florales Muster auf einer Fassade oder ein Stadion in Form eines Vogelnestes ist noch nicht Bionik in der Architektur. In der klassischen Bionik geht es vielmehr darum, Prinzipien aus der Biologie in technische Lösungen umzusetzen. Darin stimmen Petra Gruber, Architektin mit dem Spezialgebiet Bionik und Lukas Zeilbauer von der TU Wien, Institut für Architekturwissenschaften Tragwerksplanung und Ingenieurholzbau (ITI), überein.
„Wenn wir uns ein Naturphänomen anschauen, dann versuchen wir eine strategische Analyse durchzuführen, damit man die entscheidende Struktur oder auch den essenziellen Prozess dahinter versteht und in Architektur oder Technik überleitet. Und letztlich ist das ganz stark mit Optimierung verknüpft“, erklärt Zeilbauer, der an der TU Wien die Lehrveranstaltung „Modul: Logik der Struktur“ anbietet. Man macht die biologische Funktion für den Menschen anwendbar, oder: „Es geht nicht um die Kopie einer Form, sondern um eine Funktionsanalogie.“ In der klassischen Bionik werden Prinzipien aus der Biologie in technische Lösungen umgesetzt.
„Der Prozess funktioniert schließlich über die Abstraktion“, so Gruber, die Adjunct Associate Professor am Biomimicry Research and Innovation Center an der University of Akron (USA) und seit Anfang des Jahres wieder in Österreich ist. In der Grundlagenforschung findet man interessante Konzepte in biologischen Prozessen, Mikroorganismen, Ökosystemen aber auch der physikalischen Welt. Das versucht man über Abstraktion, qualitative und quantitative Forschung zu verstehen und überträgt dann funktionelle Konzepte und Prinzipien in einen völlig anderen – technischen – Kontext. Dabei geht natürlich auch sehr viel verloren, „Lebewesen sind immer multifunktionell“ (Wachstum, Metabolismus, Fortpflanzung, Evolution etc.). „Man nimmt letztlich einen kleinen Teil, den man verstanden hat, und wendet diesen in einem technischen Bereich an“, erläutert die Wissenschafterin.
Vorbild Baum
Wie Bionik „am Bau“ funktioniert, erklärt Zeilbauer anhand des „bionischen Multitalents“ Baum (siehe dazu auch „Die Natur als Werkstoff-Ingenieur„): „Ein Baum optimiert sich in seinem Wachstum. Er reagiert auf den Kraftfluss, indem er für seine Äste und den Stamm eine Vektoraddition abwärts durchführt. Transferiert man das Prinzip der Vektoraddition in einen Tragpfeiler hat man nicht nur eine Stütze, sondern bereits ein von einer biologischen Funktion inspiriertes Bauelement.“
Bessere Schrauben
Der deutsche Physiker Claus Mattheck (Karlsruher Institut für Technologie) hat durch die Beobachtung von Bäumen eine Methode zur Optimierung von Kurven (Methode der Zugdreiecke) entwickelt. Damit lassen sich Gegenstände leichter und langlebiger gestalten. Mit Zugdreiecken optimierte Bauelemente würden im Bruchtest rund zehnmal länger halten, da scharfe Ecken, wo die größten Spannungen entstehen, weitestgehend vermieden werden. Das hat er schließlich auf Schrauben – insbesondere Knochenschrauben – umgelegt. „Derartige Schrauben, die sich äußerlich nicht von anderen Schrauben unterscheiden, brechen nicht mehr“, erklärt der TU-Architekt Lukas Zeilbauer.
„Gerade was Tragewirkungen oder -muster betrifft, gibt es bereits zahlreiche Beispiele, wo man sich die Natur als Vorbild nimmt“, so Zeilbauer. Ein prominentes Beispiel ist der Glasschwamm, der durch seinen Aufbau die Wissenschaft schon seit Jahren fasziniert. Für die Architektur sei er vor allem durch seine ausgefeilte Röhrenstruktur aus Silikat interessant. In einigen Wolkenkratzern in Dubai wurden bionische Adaptionen und Optimierungen auf Basis der Schwammstruktur integriert. „Auf den ersten Blick könnte man es für ein Designelement halten, aber es steckt tatsächlich die Röhrenfunktion des Glasschwammes dahinter“, so der TU-Wissenschafter.
Self-X
Als weiteres Beispiel nennt Gruber den bekannten Lotuseffekt, womit kurz gesagt die Selbstreinigungsfähigkeit von biologischen Oberflächen durch eine Mikrostruktur plus einer hydrophoben Chemie benannt wird. Materialien mit Lotuseffekt oder anderen Self-X-Eigenschaften (self-cleaning, self-repair, self-healing …) gibt es bereits recht häufig und sind schon weit in die Bauindustrie vorgedrungen.
Als Beispiel verweist sie auf den selbstheilenden Beton, wobei Klebstoffe oder auch kalkbildende Bakterien in das Material „eingebaut“ werden, die bei Wassereintritt aktiv werden und Mikrorisse wieder schließen. Dadurch habe man eine bessere Ausnützung, Widerstandsfähigkeit und Haltbarkeit des Baustoffs. Erste Produkte würden bereits in der Marktreife stehen. Gängige Praxis seien im Bauwesen weiters auch Optimierungsverfahren, die aus der Biologie kommen, wie etwa evolutionäre Algorithmen, die zu konstruktiven Berechnungen oder auch für den Architekturentwurf herangezogen werden.
Ausgetretene Pfade verlassen
Das Problem daran, wie derzeit gebaut werde, sei, dass noch immer so gebaut werde wie schon vor 3.000 bis 4.000 Jahren, meint Zeilbauer: „Loch graben, Fundament befestigen, Gerüst aufstellen, dann die Struktur nach oben bauen. Das war bei den Pyramiden so, bei gotischen Kathedralen und bei den Wolkenkratzern des 20. Jahrhunderts. Das Prinzip ist das gleiche, nur die Technik wurde besser. Jetzt geht es darum, sich im Bauwesen von den traditionellen Wegen loszulösen.“
Im Bauwesen ist Optimierung ein großes Thema. Dabei geht es laut Zeilbauer nicht nur um Materialersparnis, Energieeffizienz, Bauzeitverkürzung und Kostenreduktion, sondern darum, „wie ist die Basis der Struktur und wie setzen wir die um. Bionik kann dafür revolutionär wirken. Die Natur ist ein riesiger Motivator, komplett neue Strukturen für die Architektur und das Bauwesen zu entwickeln“, meint Zeilbauer. „Es wird immer noch auf die größte Einwirkung dimensioniert – eine Decke hat überall die gleiche Stärke, obwohl der Druck von innen nach außen zu den Wänden hin abnimmt. Das ist sehr ineffizient“, so der Experte. Über den Einfluss der Bionik versuche man jetzt, sich von diesen Mustern zu lösen und generell neue Prinzipien, Technologien und Umsetzungen in die Realität zu bringen.
Federführend auf diesem Gebiet ist im deutschsprachigen Raum das Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (itke) der Universität Stuttgart. Hier werde versucht, den Bauprozess, Anwendungen biologischer Strukturen aber die auch die Formen dieser Strukturen komplett neu zu denken. „Noch stehen wir am Beginn der Entwicklung, aber die Forschung wird künftig stark in die Richtung des Hinterfragens ‚Wie wird gebaut‘ gehen. Bionik wird dafür ein starker Treiber sein“, erklärt der Wissenschafter.
Ein weiterer Treiber für eine „neue Baukultur“ seien neue digitale Möglichkeiten wie der 3D-Druck und Robotertechnik. Weiters würden Computertechnologien das Materialdesign komplett ändern, Baustoffe und Strukturen auf bionischer Basis könnten dann in großer Menge effizient, billiger und individuell angepasst gestaltet hergestellt werden, und würden damit auch die Forschung antreiben, meint Gruber.
Integration von Organismen
Spannend findet die Forscherin, dass man im Moment weggeht von der reinen Prinzipienübertragung hin zur Integration von Organismen in Gebäuden: „Das ist dann nicht mehr klassische Bionik, sondern eine Mischung aus Bionik, Biotechnologie und Biodesign mit hybriden Lösungen von Bauwerken und belebten Systemen.“ Das ist für die Wissenschafterin besonders angesichts des Klimawandels und der damit Hand in Hand gehenden Probleme (z.B. „Klimawandel und globale Verstädterung“) und der Suche nach technologischen Lösungen von Bedeutung.
Stabilisierende Wurzelsysteme
Petra Gruber arbeitet derzeit gemeinsam mit Kollegen an der Universität von Akron an einem Projekt über Wurzelsysteme von Bäumen. Dabei analysieren sie Topologien und Algorithmen, um daraus Schlüsse für Gebäudefundamente und Küstenstabilisierung zu gewinnen. „Wir haben auf Photogrammetrie und 3D-Druck gesetzt, um reale biologische Wurzelsysteme dreidimensional abzubilden.“ Mit den 3D-Modellen wurde schließlich mit ingenieurwissenschaftlichen Methoden getestet, wie die Strömungsmechanik funktioniert und was hilfreich sein könnte, von Erosion betroffene Küsten zu stabilisieren. Der 3D-Druck hat die Simulation durch dreidimensionale Prototypen laut der Forscherin immens erleichtert und beschleunigt.
Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile im urbanen Raum. Daher gehe es auch um eine Reintegration von Natur in ein städtisches Umfeld. Da müsse man sich auch mit der Generierung von hybriden Systemen – die Kombination aus von Menschen geschaffenem und urbanem Naturraum – bemühen. Konzepte, wo versucht wird, lebende Organismen in die Architektur zu integrieren, werden zusehends interessanter. Das hat aber nicht nur mit der Materialstruktur zu tun, sondern auch mit der Nahrungsmittelherstellung. „Urban farming“-Konzepte verschneiden sich immer mehr mit Architektur aber auch der Stadtplanung.
Mikroorganismen mit gezielten Funktionen
Weit über die Bionik hinaus würden zudem die neuesten Entwicklungen der synthetischen Biologie auch in der Architektur und dem Bauwesen zusehends eine Rolle spielen: Man gestaltet – vor allem – Mikroorganismen nach der gewünschten Funktionalität. So werde an Konzepten geforscht, wie Mikroorganismen durch Kalkablagerungen Böden tragfähiger machen können (Biocalcification). Das ist noch ein junges Forschungsgebiet, das für die Wissenschafterin vielversprechend klingt und gut funktioniert. „Erkenntnisse, die aus der Mikrobiologie und vor allem aus der synthetischen Biologie hervorgehen werden, werden auch auf das Bauwesen revolutionär einwirken“, glaubt Gruber.
Derzeit ist man aber fast ausschließlich im Forschungsstadium. So gibt es etwa das EU-Projekt „Fungar“, das interdisziplinär darauf abzielt, „ein vollständig integriertes strukturelles und lebendes Substrat unter Verwendung von Pilzmyzel für den Einsatz in der Architektur und Informationstechnologie zu entwickeln“. Ein Konsortium aus verschiedenen Forschungseinrichtungen untersucht,ob und inwieweit Pilze Strom und/oder Information in Gebäuden weiterleiten können. Gruber hat in mehreren Projekten selbst mit Mycoterials gearbeitet, um sich einer Umsetzung in Projekte und Produkte anzunähern.
Mycoterials
Petra Gruber wertet derzeit außerdem Materialtests mit Pilzmaterialien (Mycoterials) aus. In Ohio (USA) werden durch die Landwirtschaft regelmäßig die Gewässer, vor allem der Eriesee als wichtigster Süßwasserspeicher der Region, überdüngt, wodurch es jährlich im Sommer zu einer Algenblüte und zur Bildung toxischer Mikroorganismen und Fischsterben kommt. Dem wird begegnet, indem geeignete Schilfsorten gepflanzt werden, um damit Düngemittel aus dem Wasser herauszufiltern und im Pflanzenmaterial zu speichern.
„Wir haben diese Gräser als Substrate zur Herstellung der Mycoterials verwendet. Uns ging es darum, die Düngestoffe, die aus dem Wasser gezogen wurden, langfristig in dem Material zu binden. Wir können damit den Schadstoffeintrag in den Ressourcenzyklus zumindest wesentlich verzögern. Damit wird auch der Schilfanbau einer weiteren sinnvollen Nutzung zugeführt“, fasst Gruber zusammen. Konkrete Ergebnisse der Materialtests werden derzeit zusammengefasst und bald veröffentlicht.
„Living architecture“
„Die Architektur bewegt sich immer mehr in die Richtung ‚living archicture’“, so Gruber, die diesen Ansatz schon in ihrer Dissertation 2008 postuliert hat. Dabei würden aber auch Probleme auf die Branche zukommen, die man im Bauwesen überhaupt nicht haben will. „Man will es nicht feucht im Haus, man will keine Pilze, man will eine sehr kontrollierte Umgebung.“ Da sei noch nicht ganz klar, wie das zusammenpassen kann. Das werde derzeit von Projekt zu Projekt neu verhandelt.
Nicht zu vernachlässigen sei auch der ethische Aspekt, wenn man lebende Organismen in Gebäude integriert: „Darf man die Algen aus dem Bioreaktor einfach in den Kanal entsorgen? Wie wird die Umwelt durch diese Projekte beeinflusst? Wohin streuen Pilzsporen? usw.“ Eine Reihe an neuen Fragestellungen, die (noch) nicht leicht beantwortet werden können, aber wohl werden müssen, wenn man derartige Ideen real umsetzen möchte.
Bis neue Baustoffe, die z.B. auf Pilzen basieren, beim Endkunden ankommen, müssen einige Hürden genommen werden. „Schafft man das, dann wird auch die Akzeptanz für zertifizierte Produkte, die im Bau unbedenklich eingesetzt werden können, geschaffen sein“, glaubt Gruber: „Letztlich kommt es auf die Umsetzung derartiger neuer Technologien an.“
Walflossen und Windräder
Meist wird das Gelernte als Gegeben hingenommen und selten hinterfragt. Zum Beispiel Rotorblätter von Windrädern: Bisher wurden sie aerodynamisch möglichst flach konstruiert. Das war so gut wie einzementiert.
Ein Wissenschafterteam aus Kanada und den USA schlägt aber eine Form angelehnt an die Flossen von Pottwalen vor. Trotz der relativ kleinen Flossen können sich die extrem schweren Tiere im Wasser schnell, wendig und effizient bewegen können. Dafür verantwortlich sind Noppen an den vorderen Enden der Flossen, haben die Forscher herausgefunden. Das Prinzip wurde schließlich für Rotorblätter von Windrädern adaptiert, was zu mehr Effizienz führte. Die Wissenschafter wurden dafür mit dem Europäischen Erfinderpreises 2018 des Europäischen Patentamts ausgezeichnet. „Das ist ein gutes Beispiel dafür, Althergebrachtes zu hinterfragen und Neues zu denken, sich vom Stand der Technik zu lösen“, erklärt Lukas Zeilbauer von der TU Wien, Institut für Architekturwissenschaften Tragwerksplanung und Ingenieurholzbau (ITI). Wenn der Effizienzgewinn bei einem Windrad auch nur bei einem halben Prozent liegen sollte, sei das global hochgerechnet eine enorme Einsparung, weist er auch auf den wohl zentralsten ökonomischen Aspekt hin.