Digitaler Zwilling optimiert Arzneimittelgabe für Nierenkranke
Komplett virtuelle Doppelgänger sollen dereinst die Medizin revolutionieren. Computergestützte Modelle von menschlichen Organen und ihren Regulations- und Stoffwechselprozessen können aber auch schon heute dazu beitragen, Nebenwirkungen von Therapien zu verhindern. So hat etwa eine Mathematikerin der Universität Graz mithilfe eines Modells der Nebenschilddrüse die Medikamentengabe für Nierenkranke optimiert, um mineralische Knochenstörungen zu verhindern.
Durch den Verlust der Nierenfunktion kommt das Hormonsystem und das regulatorische System des Kalzium- und Phosphatgleichgewichts ins Wanken. Patienten mit Niereninsuffizienz, die auf die Dialyse angewiesen sind, entwickeln daher oftmals mineralische Knochenstörungen. Die Mechanismen, die zur Störung des Mineral- und Knochenhaushaltes führen, sind jedoch hochkomplex und multidimensional. Mathematische Modelle helfen, die zentralen Mechanismen zu identifizieren, analysieren und Rückschlüsse auf das System sowie mögliche Behandlungen zu ziehen.
Arzneimittelgabe seltener, aber kontrollierter
Das Hauptaugenmerk der Grazer Mathematikerin Gudrun Schappacher-Tilp lag daher zuletzt im Bereich von Hämodialysepatientinnen und -patienten: Ein Wegfall der Nierenfunktion führt in der Regel zu einer Überproduktion des sogenannten Parathormons der Nebenschilddrüse, was schwerwiegende Folgen für den Knochenbau haben kann. Um diese abzufedern, bekommen die Betroffenen häufig ein Medikament verordnet, das zwar die Nebenschilddrüse effektiv kontrolliert, aber bei vielen auch Nebenwirkungen hat. Dadurch sei die Einnahmedisziplin bei der Langzeitbehandlung sehr niedrig, erklärte Schappacher-Tilp.
"Unsere Berechnungen zeigten, dass eine seltenere, aber kontrollierte Arzneimittelgabe gleich wirksam ist wie die bisherige Verschreibungspraxis", fasste die Mathematikerin die Ergebnisse ihrer jüngsten Bemühungen zusammen. Im Rahmen eines vom Renal Research Institute in New York gesponserten Projekts erstellte sie ein detailliertes mathematisches Modell der Nebenschilddrüse und simulierte verschiedene Verabreichungsformen der Arzneimittel. "Wir konnten zeigen, dass eine Medikamentengabe dreimal wöchentlich im Anschluss an die Dialyse ausreichend wirkungsvoll ist", hielt die Forscherin fest. Eine Klinikkette in den USA setze diese Erkenntnisse laut Mitteilung der Universität Graz bereits an Tausenden Betroffenen erfolgreich um.
Für Schappacher-Tilp bedeuten Modelle von Organen und virtuelle Versuchsreihen für Medikamente die Zukunft der Pharma-Forschung: "So kann man große und extrem teure klinische Studien zum einen treffsicherer machen, zum anderen reduzieren", zeigte sich die Forscherin überzeugt. Ihr Modell, das die nunmehrige Doppeldoktorin (Mathematik und Medizinische Wissenschaft) als Teil ihrer Dissertation an der Medizinischen Universität Graz entwickelte, berücksichtigt neben der Nebenschilddrüse die Aufnahme von Kalzium und Phosphat, Nierenfunktion, Knochenhaushalt sowie Kalkablagerungen in Gefäßen.