ÖAW eröffnet Forschungsstelle zu Thomas Bernhard
"Die ungebrochene Aktualität Thomas Bernhards ist unbestritten, gerade auch angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen." Das versichert Norbert Christian Wolf. Er ist Vorstand des Instituts für Germanistik der Uni Wien und leitet eine neue Forschungsstelle zu Thomas Bernhard an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Am Mittwoch (22. Jänner) wird sie im Festsaal der ÖAW feierlich eröffnet.
ÖAW-Präsident Heinz Faßmann wird den Abend, bei dem auch Nobelpreisträger Anton Zeilinger zu Worte kommen und Mavie Hörbiger aus Bernhards "Meine Preise" lesen wird, einleiten. "Thomas Bernhard zählt zu den wichtigsten österreichischen Schriftstellern. Er hat den Finger immer auf die Wunden des Landes gelegt und gerne auch noch Salz hinein gestreut. Bernhards Lust an der Polarisierung ist nicht immer so gut angekommen wie heute", sagt er.
Bernhard kontextualisiert betrachten
Seit 2023 beherbergt die ÖAW zentrale Materialien zu Leben, Werk und Wirken des Schriftstellers. Das Anliegen der neuen Forschungsstelle bestehe darin, "Bernhard nicht monolithisch als Solitär zu betrachten, sondern ihn und seine Texte systematisch in ein Verhältnis zu konkurrierenden Autor:innen und deren Literatur sowie zum politik- und kulturhistorischen Kontext seiner Zeit zu setzen", erläutert Wolf gegenüber der APA. Eine solche Kontextualisierung soll "auch sichtbar machen, wie Thomas Bernhard zu einem Kristallisationspunkt der öffentlichen Debatte um das österreichische Selbstverständnis und sein Werk zu einem zentralen und umstrittenen Erinnerungsort des Landes werden konnte".
Zunächst entsteht in Kooperation mit der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft und dem Suhrkamp Verlag eine Übersetzungsdatenbank zu Bernhards Gesamtwerk. Darüber hinaus werden die digitale Erfassung und die Aufbereitung von Rezensionen, Theaterplakaten, Programmheften und audiovisuellen Medien vorbereitet. Vier Mitarbeitende arbeiten in einem neu adaptierten Gebäude der ÖAW in der Bäckerstraße 13 daran. Allgemeiner Publikumsverkehr wird nicht angeboten, zumal sich der literarische Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) befindet, mit dem ebenso eng kooperiert werden soll wie mit dem Literaturmuseum.
Methoden der digitalen Geisteswissenschaften
Organisatorisch ist man einer ÖAW-Einheit mit dem unaussprechlichen Namen "Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage" (ACDH-CH) angegliedert, was für Wolf durchaus Sinn macht: "Auch unsere Arbeit gilt der Archivierung, Aufarbeitung, Erforschung und Vermittlung des kulturellen Erbes Österreichs, zu dem das Werk Thomas Bernhards ohne Zweifel zählt." Die Methoden der digitalen Geisteswissenschaften ermöglichten einen niederschwelligen Zugang zu Thomas Bernhard.
Der 1989 im Alter von 58 Jahren gestorbene Dichter wird auch von den späteren Generationen ungebrochen rezipiert. Schon 2013 fragten die Wiener Festwochen in einem eigenen Festival "What Would Thomas Bernhard Do?" Und wie sieht das heute aus? "Was Bernhard heute tun oder zur derzeitigen Innenpolitik sagen würde, können wir aus der Perspektive der Literaturwissenschaft nicht seriös beantworten, zumal sich sein Verhältnis als Künstler und Schriftsteller zu politischen Ideologien, Gruppierungen und Parteien eindimensionalen Zuordnungen verweigert", meint Wolf.
"Wir verstehen den verstorbenen Autor auch nicht als Rat- und Stichwortgeber für die Gegenwart, sondern als historischen Forschungsgegenstand", stellt der Germanist klar. "Ein geeigneter Anlass für Bernhards Polemiken wäre aber vielleicht die vorauseilende Servilität, die gegenüber einer möglichen FPÖ-geführten Regierung in Österreich schon jetzt mancherorts an den Tag gelegt wird."
Service: Feierliche Eröffnung der Forschungsstelle Thomas Bernhard am 22. Jänner um 18 Uhr im Festsaal der ÖAW, Wien 1, Dr. Ignaz Seipel-Platz 2
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