Forscher wollen Eurasien-Begriff nicht Putins Ideologen überlassen
Wenn der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Begriff "Eurasien" die Schaffung eines Reiches unter großrussischer Führung propagiert, dann löst das in unseren Breiten ungläubiges Kopfschütteln aus. Wiener Forscher spüren nun der Entstehungsgeschichte und spürbaren Wirkmacht solcher Ideen im Rahmen des hochdotierten "Cluster of Excellence" namens "EurAsia: Transformationsprozesse" nach. Dabei geht es auch um "Übersetzungsleistungen" zwischen Weltanschauungen.
Die eurasische Landmasse beherbergt rund 70 Prozent der Weltbevölkerung. Den Begriff "Eurasien" verwendet aber heute vor allem Russland - auch in Bezug zum Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Idee des "Eurasianismus" sei aber vor rund 100 Jahren in Wien von russischstämmigen Intellektuellen geprägt worden, die nach dem Ende des Zarenreiches und angesichts des kommunistischen Regimes nach einem neuen ideologischen Unterbau für die Zukunft ihrer Heimat suchten. Als heldenhafte Integrationsfiguren sollten Gewaltherrscher wie Dschingis Khan herhalten, erklärte Oliver Jens Schmitt vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien bei einem "Science Update" mit dem Titel "Kampfbegriff Eurasien" an der Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Man sollte nun nicht den Fehler machen, den Terminus den russischen Regierungsideologen zu überlassen. Zwar wolle man sich im Rahmen der Forschungstätigkeit im Rahmen des mit rund 15,5 Mio. Euro dotierten Clusters nicht an der Tagespolitik orientieren, wohl aber gewissermaßen Orientierung in dieser hochkomplexen Weltregion mit ihrer "ungeheuren Vielfalt", ihren verschiedenen Strömungen und Deutungen geben, so auch die Cluster-Leiterin Claudia Rapp von der ÖAW und der Uni Wien.
Von Wien aus den Blick auf "Megaregion" richten
Gerade Wien eigne sich für einen genauen historischen Blick auf diese "Megaregion" besonders. Kaum woanders auf der Welt gebe es bereits so viel einschlägige wissenschaftliche Kompetenz auf so engem Raum vereint. Die im März zuerkannte Millionenförderung durch den Wissenschaftsfonds FWF und die Partnerinstitutionen gebe den Wissenschaftern die Möglichkeit, auch viel an "Übersetzungsarbeit" zu leisten. Denn im Westen der riesigen Landmasse werde mitunter so einiges nicht verstanden, was weiter östlich ein sehr großes Thema sei, so die Forscher.
So verstehe man vielerorts die Rolle der orthodoxen Kirche kaum, erklärte Schmitt. Wenn etwa Intellektuelle in Rumänien sich dafür einsetzen, den Termin der orthodoxen Ostern an den katholisch-protestantischen Kalender anzupassen, sei das als Versuch eines "Aktes der europäischen Integration" und Abgrenzung von Russland zu verstehen. Der Empfänger - in diesem Fall die westeuropäische Gesellschaft - müsse solche Nachrichten aber auch verstehen können, sagte der Historiker.
Stellenwert der orthodoxen Kirche
Genau hier könne die Wissenschaft helfen, indem sie etwa in Wien als einer der mittlerweile "größten orthodoxen Städte in Europa" auch darüber aufklärt, welchen großen Stellenwert die orthodoxen Kirchen in vielen, mitunter auch EU-Ländern eigentlich hat, und woher die enge Verbindung von Kirche und Staat nicht nur in Russland herrührt. Dort bringe die Politik die Orthodoxie schon sei einiger Zeit ganz bewusst gegen Europa und die EU in Stellung.
"Tiefenstruktur in die oft oberflächliche politische Betrachtung" könnten solche Forschungsverbünde bringen, zeigte sich ÖAW-Präsident Heinz Faßmann überzeugt. Mit dem langjährigen Förderhorizont - der Cluster hat Chancen auf eine Verlängerung auf insgesamt zehn Jahre - würden sich komplett neue Möglichkeiten eröffnen.
Logischerweise reduziert seien in Folge des Ukraine-Krieges allerdings die Möglichkeiten, sich mit ukrainischen und russischen Kollegen auszutauschen, so die beiden Cluster-Leiter. Man arbeite hier "im Einzelfall", denn institutionelle Netzwerke würden momentan vielfach nicht funktionieren, russische Bibliotheken und Archive sind gar nicht zugänglich. Mit ukrainischen Kollegen halte man Videokonferenzen ab, die vom Bombenalarm unterbrochen zu werden drohen, erklärte Rapp: "Wir sind da ganz nahe dran."
So gelte es, die vielfältigen persönlichen Kontakte in die wissenschaftlichen Zirkel in vielen Länder weiterzuführen, zu hinterfragen, Unterstützung anzubieten und die Wissenschafter in Projekte zu integrieren, wo das möglich ist. Man dürfe keineswegs vergessen, dass in einigen Staaten des großen Untersuchungsraumes "Eurasien" totalitäre Regime am Werk sind. Auch im Zuge des Ukraine-Krieges müsse man mehr über das Verhalten von Wissenschaftern in und in Bezug auf solche politischen Systeme nachdenken, sagte Schmitt.
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