Helga Nowotny: Auch die "Nachtseite" der Wissenschaft vermitteln
Die Wissenschaft hat in der Corona-Pandemie mit der Entwicklung von Impfstoffen in kurzer Zeit ihre Leistungsfähigkeit bewiesen. Dennoch mache das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Experten auch vor ihr nicht Halt, meint die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. Sie empfiehlt daher nicht nur die "Tagesseite" der Wissenschaft, also ihre Erfolge, zu vermitteln, sondern auch ihre "Nachtseite" und damit den Forschungsprozess als Ganzes.
In der Pandemie sei die Wissenschaft in einer für sie unerwarteten Weise in die Mitte der Gesellschaft katapultiert worden und sehe sich nun damit konfrontiert, ihre Position dort neu bestimmen zu müssen, schreibt die emeritierte Professorin von der ETH Zürich in einem "Policy Brief" zum Thema "Wege aus der Pandemie: zur Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft". Die Wissenschaft stehe im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, "doch wird ihr längst nicht die kognitive Autorität zuteil, die ihr nach ihrem Selbstverständnis zusteht."
Viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter würden "die mediale Exponiertheit als zutiefst ambivalent empfinden". Einerseits sollen sie ihr Wissen und ihre Einschätzung einer vielfach noch unübersichtlichen und mit vielen Ungewissheiten behafteten Lage öffentlich vertreten, andererseits sehen sie sich einer oft unfairen Kritik ausgesetzt, gegen die sie sich kaum wehren können.
Druck auf Forscher steigt
Zudem ortet Nowotny einen erhöhten Druck auf alle Forscher, gute Wissenschaftskommunikatoren zu sein, "ohne dass auf das grundlegende Problem eingegangen wird: Die Wissenschaft hat es verabsäumt der Öffentlichkeit, aber auch der Politik, in ausreichendem Maße zu erklären, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert", konstatiert Nowotny, die Gründungsmitglied und Präsidentin des Europäischen Forschungsrats (ERC) war.
Im Bestreben, den Nutzen der Wissenschaft den Steuerzahlern gegenüber zurechtfertigen, seien meist jene Ergebnisse und Produkte im Vordergrund gestanden, die geeignet waren einen solchen Nutzen sichtbar zu machen. Dagegen seien die wissenschaftlichen Arbeitsweisen nicht beleuchtet worden. Es gebe aber nicht nur eine "Tageswissenschaft", zitiert Nowotny den französischen Medizin-Nobelpreisträger François Jacob, in der sie ihre glänzenden Erfolge öffentlich feiert, "sondern es gibt auch die 'Nachtwissenschaft'", die "von den Anstrengungen geprägt ist, die zum wissenschaftlichen Arbeiten gehören, von Versuchen und Irrwegen und somit auch von Frustration, Müdigkeit und dem Durchringen nochmals von vorne zu beginnen".
Nowotny ist überzeugt, dass "Enttäuschungen vorprogrammiert sind, wenn die Öffentlichkeit ausschließlich die 'Tageswissenschaft' zu sehen bekommt". Wenn den Menschen nur Endprodukte präsentiert würden, also etwa neue Therapien, Medikamente oder technologische Gadgets, dann bleiben die Prozesse der Entstehung von neuem Wissen und der oft lange Weg der Umsetzung in die praktische Anwendung ausgeblendet.
Stand des Wissens "immer nur ein vorläufiger"
Der Öffentlichkeit werde auch nicht mitgeteilt, "dass der jeweilige Stand des Wissens immer nur ein vorläufiger ist", werde jedes wissenschaftliche Wissen doch kontinuierlich durch genaueres oder auch anderes Wissen ergänzt oder ersetzt. "So manche Enttäuschung über die Aussagen von Experten, hätten sich vermeiden lassen, wenn diese Einsicht der Öffentlichkeit weiter gegeben worden wäre."
Für Nowotny geht weniger darum, die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft als solche zu verbessern und schon gar nicht um neue PR-Maßnahmen, "sondern um das, was vermittelt werden soll - und das ist der Forschungsprozess selbst: wie wird Forschung betrieben und wie kommen Forscherinnen und Forscher zu ihren Ergebnissen. Wie werden diese überprüft und von wem?" Denn Wissenschaft sei "organisierter Skeptizismus und ohne Zweifel an ihren eigenen Ergebnissen gibt es kein validiertes wissenschaftliches Wissen". Deshalb müssten Gesellschaft und Politik besser über das Funktionieren des Systems Wissenschaft Bescheid wissen.
"Die 'Tagesseite' der Wissenschaft lässt sich von ihrer 'Nachtseite' nicht trennen - und beides gilt es der Öffentlichkeit so zu vermitteln, dass Wissenschaft und Innovation als das gesehen werden was sie sind: die höchst erfolgreiche Fortsetzung der biologischen Evolution mit kulturellen, von Menschen erfundenen und weiter entwickelten wissenschaftlich-technischen Ideen, Methoden und Instrumenten", so Nowotny.
Service: http://www.helga-nowotny.eu/downloads/helga_nowotny_b359.pdf