NS-Erinnerungskultur: Archäologische Funde gewinnen an Bedeutung
Es leben immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die noch unmittelbar von den Gräueln der NS-Diktatur berichten können. In Zukunft dürfte darum Fundstücken aus archäologischen Grabungen größere Bedeutung zufallen. Etwa an ehemaligen KZ-Standorten entdeckte Objekte sollen helfen, den Alltag und die Lebensrealitäten von Opfern und Tätern besser zu verstehen. Am Mittwoch haben Archäologen aus Österreich und Bayern dazu ein gemeinsames Positionspapier unterzeichnet.
"Dinge können uns mindestens ebenso viel erzählen, wie schriftliche Quellen, Fotografien oder Filmaufnahmen", betonte Sven Keller, Leiter der Dokumentation Obersalzberg im ehemaligen "Führersperrgebiet" bei Berchtesgaden in Bayern. "Das macht Fundstücke auch für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit wichtig. Zentral dabei ist, dass man die materiellen Zeugnisse in einen Kontext setzt und sie ihre Geschichte erzählen lässt."
Alltagsdinge erzählen eine eigene Geschichte
Als Beispiel nennt Keller eine Streichholzschachtel des Herstellers Solo, auf der ein Etikett mit dem Schriftzug "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" klebt. "Das ist auf den ersten Blick ein Stück Propagandamaterial" - unzählige Male hergestellt. Doch der Fabrikant der Zündhölzer sei Jude gewesen, der beim "Anschluss" Österreichs gezwungen wurde, sein Produkt entsprechend zu etikettieren. 1938 floh der Unternehmer nach Tschechien und später nach Frankreich, kam dort für einige Zeit ins KZ und starb kurz nach der Freilassung 1942. "Die Streichholzschachtel, deren Geschichte wir kennen, ist damit ein viel wichtigeres Objekt als Hitlers Kuchengabel, die man im Internet ersteigern kann."
Auch andere Alltagsdinge lassen das Bild der Geschichte plastischer und facettenreicher erscheinen. Claudia Theune, Archäologin und Professorin an der Universität Wien, hat mehrere Ausgrabungen an ehemaligen NS-Stätten begleitet. "Objekte besitzen zusätzlich zu anderen Quellen ein hohes Potenzial, um etwa Strukturen von Macht und Terror der NS-Zeit deutlich werden zu lassen", sagt sie. So zeugten Zahnbürsten und Kämme vom Bemühen von KZ-Insassen, sich einen minimalen Hygienestandard zu bewahren. Fundstücke mit eingraviertem Namen oder Initialen davon, sich nicht nur als Nummer zu sehen. Oder selbst gemachte Schuhe vom Versuch, sich vor widrigem Wetter zu schützen. "Das alles sind Zeugnisse von Überlebensstrategien, davon, wie Menschen den Zuständen in den Lagern begegnet sind", erklärt Theune.
In ihrer Arbeit kämpfen die Archäologen zunächst mit der schieren Zahl an Funden. Im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten gab es zwei Dutzend Konzentrationslager mit rund 1.200 Nebenlagern, dazu sechs Euthanasieanstalten. Dazu kommen - wie der Obersalzberg - reine Täterorte. Viele der Funde sind Massenfunde, wo gleich Hunderte Gegenstände zu Tage gefördert werden. "Alleine in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim in Oberösterreich wurden 8.000 Funde gemacht", sagt Theune: Rosenkränze, ein Taschenspiegel, Cremedosen, ein exklusiver Lippenstift oder eine Beinprothese. Eine Kindertasse erinnere daran, dass in Hartheim mehr als 800 Kinder und Jugendliche ermordet wurden, eine Box für teure Rasierklingen erzähle die Geschichte des Unternehmers, Waffenschmieds und "Reichsschmiedemeisters" Paul Müller.
Wie mit Massenfunden umgehen?
"Am Anfang stand die Frage, müssen wir alles aufbewahren? Können wir aussortieren und manche Dinge wegtun - und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen", so Theune. Doch nicht nur die Menge an Funden sei eine Aufgabe: Oft habe man es mit riesigen Flächen zu tun, etwa ehemaligen Konzentrationslagern oder Kasernen. Viele der gefundenen Objekte seien industriell gefertigt, oft Produktionsgegenstände aus Zwangsarbeit. Nicht immer sei ihr Erhaltungszustand gut, es stelle sich die Frage, ob und wie Dinge restauriert oder aufbewahrt werden sollen. "Die langfristige und nachhaltige Lagerung wird angesichts überfüllter Depots und Sammlungen zur Herausforderung".
Darum wurden gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt in Wien und dem Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege in München Grundsätze entwickelt, wie mit Funden und Massenfunden aus der NS-Zeit umgegangen werden soll. Das gemeinsame Papier formuliert allgemeine Richtlinien. Zentral sei dabei - eines der Erkenntnisse - die vollständige Erfassung und umfangreiche Dokumentation aller Funde. "Dazu werden keine Objekte von Opfern ausgeschieden, nichts, was handgefertigt wurde, nichts, was modifiziert wurde", so Theune. Und wie Susanne Fischer vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege betonte, sei es von hoher Bedeutung, die Ergebnisse der Arbeit der Nachwelt zu überliefern, also sie zu publizieren, auszustellen und zu vermitteln.
Für den Leiter der Dokumentation Obersalzberg haben die Grabungen übrigens einen weiteren Vorteil: Er begrüße die archäologische Begleitung, weil man damit auch so etwas wie Raubgrabungen vorgreife. Immer wieder würden im Internet Gegenstände feilgeboten, die einen Bezug zum Obersalzberg suggerieren. "Vieles stammt aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, Souvenirs, die von Besatzungssoldaten mitgenommen worden sind. Aber bis in die Gegenwart tauchen immer wieder Dinge bei Versteigerungen auf, von denen behauptet wird, dass sie vom Obersalzberg stammen. Da versuchen Leute, die absurdesten Dinge zu Geld zu machen."