Kurzsichtigkeit als Pandemie
Weltweit läuft eine Pandemie der Kurzsichtigkeit (Myopie). Laut einer vor kurzem im British Journal of Ophthalmology veröffentlichten Studie ist bereits jedes dritte Kind betroffen. In Japan sind es sogar 86 Prozent der Heranwachsenden, in Südkorea 74 Prozent. Das einzige wirkliche Gegenmittel, so deutsche Augenspezialisten, ist Aufenthalt im Freien und Sonnenlicht.
Während in südostasiatischen Metropolen bereits 80 bis 90 Prozent der jungen Menschen kurzsichtig sind, liegt dieser Anteil in Europa derzeit bei 30 bis 40 Prozent. "Jeder zehnte davon, also rund fünf Prozent aller Menschen in diesem Alter, bekommt eine so genannte hohe Myopie", stellte Wolf Lagreze, Leiter der Sektion Neuroophthalmologie, Kinderophthalmologie und Schielbehandlung der Klinik für Augenheilkunde an der Universitätsklinik von Freiburg in Deutschland vor kurzem aus Anlass des bevorstehenden Jahreskongresses der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) fest.
Besonders kritisch: Werte ab minus zehn Dioptrien
Unter "hoher Myopie" verstehen Mediziner eine Kurzsichtigkeit von mehr als minus sechs Dioptrien. Ab diesem Wert steigt das Risiko für langfristige Netzhautschäden an. "Als besonders kritisch gelten Werte ab minus zehn Dioptrien", erläuterte Lagreze. "Dann liegt das Risiko für eine spätere Sehbehinderung durch Makuladegeneration oder Netzhautablösung bei über 50 Prozent."
Die Kurzsichtigkeit ist offenbar - so wie viele Beeinträchtigungen im Gesundheitsbereich - eine Konsequenz des modernen Lebensstils. Als wichtige Ursache gilt vor allem die Tatsache, dass viele Kinder heute nur noch sehr wenig Zeit im Freien verbringen und daher nur selten dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Zu viel Zeit vor Bildschirmen, zu viel Zeit zu Hause, in geschlossenen Räumen, beim Lernen etc. gelten als Myopie-fördernd.
Am besten wäre die Vorbeugung
Am besten wäre natürlich die Vorbeugung. Und die wäre auch ziemlich einfach möglich. "Um so erfreulicher ist es, dass wir mit dem Sonnenlicht über ein wirksames und sogar kostenloses präventives Mittel verfügen", erklärte der DOG-Experte. In umfangreichen - ebenfalls asiatischen - Studien sei bereits gut belegt, dass das Risiko für Kurzsichtigkeit mit zunehmender Sonnenlicht-Exposition abnimmt. Eine vor kurzem publizierte Studie gebe sogar Hinweise darauf, wie die optimale Dosierung aussehen sollte: Demnach muss ein Aufenthalt im Freien mindestens 15 Minuten dauern, damit das Sonnenlicht seine vorbeugende Wirkung entfalten kann.
In der Studie hätte sich außerdem gezeigt, dass für einen messbaren Effekt bereits 2.000 Lux Tageslicht ausreichen. "Das ist eine Lichtstärke, die sogar an einem bedeckten Wintertag noch erreicht wird", erklärte Lagreze.
Ständiger Anstieg bei Kindern und Jugendlichen
Die wissenschaftliche Arbeit zur zunehmenden Verbreitung der Myopie weltweit zeigte jedenfalls über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten hinweg einen ständigen Anstieg bei Kindern und Jugendlichen. Das ergab die umfassende Auswertung von 276 Studien mit 5,4 Millionen jungen Menschen. Von 1990 bis 2000 lag die Häufigkeit von Kurzsichtigkeit unter Kindern und Jugendlichen weltweit bei etwas mehr als 24 Prozent.
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts betrug die Häufigkeit der Myopie bei den Heranwachsenden bereits etwas mehr als 25 Prozent, zwischen 2011 und 2019 schließlich knapp 30 Prozent. "Für den Zeitraum von 2020 bis 2023 wurde mit 35,81 Prozent eine auffallend starke Zunahme registriert", hieß es vor kurzem im Deutschen Ärzteblatt. Möglicherweise gebe es hier auch einen Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie.
Weniger Aufenthalt im Freien spielt entscheidende Rolle
Die längere Schul- und Ausbildungszeit mit immer weniger Aufenthalt im Freien scheint eine entscheidende Rolle bei dieser epidemiologischen Entwicklung zu spielen. Je früher Kinder in den formalen Bildungsweg kommen, desto eher entwickelt sich eine Myopie.
Skeptisch sehen die Experten mittlerweile Versuche, die Entwicklung der Kurzsichtigkeit mit verschiedenen therapeutischen Mitteln zu bremsen. So gab es bisher widersprüchliche Ergebnisse zur regelmäßigen Verwendung von niedrig dosierten Atropin-Augentropfen. In Studien aus Asien wurden damit offenbar gute Ergebnisse erzielt, in ähnlichen Untersuchungen in Europa und den USA zeigten sich jedoch kaum positive Resultate. Auch neuartige Rot-Laserlicht-Bestrahlungen und spezielle Kontaktlinsen werden aktuell von den Fachleuten eher kritisch bewertet.