"Das größte Problem ist Fehl- und Überernährung"
Gemäß Risikobarometer 2024 der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) gehören Fehl- und Überernährung, der Zuckergehalt und Mikroplastik in Lebensmitteln zu den "am wahrscheinlichsten eingeschätzten Risiken". Der Ernährungsmediziner und AGES-Geschäftsführer Johannes Pleiner-Duxneuner klärt im Gespräch mit APA-Science auf, wie Expertinnen und Experten sowie die Bevölkerung Ernährungsrisiken oft unterschiedlich wahrnehmen.
APA-Science: Werden Risiken bezüglich der Gesundheit und Ernährung in der Bevölkerung anders wahrgenommen als von Expertinnen und Experten?
Johannes Pleiner-Duxneuner: In der Bevölkerung werden Risiken wie Fehl- und Überernährung, der Fettgehalt in Nahrungsmitteln, Fertiggerichte und künstliche Süßstoffe ungefähr als gleich groß wahrgenommen. Im Unterschied dazu sind sich die für das Risikobarometer befragten Ärztinnen und Ärzte sowie AGES-Expertinnen und -Experten einig, dass Fehl- und Überernährung das größte Problem sind.
APA-Science: Spiegelt es sich ausreichend im Verhalten der Menschen wider, dass Fehl- und Überernährung als höchstes Risiko einzuschätzen sind?
Pleiner-Duxneuner: Nein, die Daten sind hier eindeutig. In Österreich sind 30 Prozent der Menschen übergewichtig, bei der Altersgruppe der über 50-Jährigen sogar mehr als 40 Prozent. Das heißt, wir haben hier ein Riesenproblem, denn daraus entstehen Folgekrankheiten wie Diabetes, also Zuckerkrankheit, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und in weiterer Folge Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hier muss man wohl die Risiken besser kommunizieren und gut aufgearbeitete Informationen bieten, wie wichtig eine gesunde und maßvolle Ernährung ist. Das passiert zum Beispiel sehr gut mit den neuen Ernährungsempfehlungen und der Ernährungspyramide, die von der AGES mitgestaltet und kürzlich vorgestellt wurde.
APA-Science: Was ist eigentlich bei Fertiggerichten ein Problem, wieso werden sie von der Bevölkerung und den AGES-Expertinnen und -Experten in einem gewissen Maß als Risiko wahrgenommen? Hat dies etwa mit den Inhaltsstoff-Listen mit oft vielen chemischen Bezeichnungen und E-Nummern zu tun?
Pleiner-Duxneuner: Es herrscht viel Verwirrung, weil natürlich die wenigsten Menschen wissen, wofür einzelne Abkürzungen und Namen stehen. Man kann freilich etwa auf seriösen Plattformen, wie der Internetseite der Europäischen Lebensmittelbehörde "EFSA" jederzeit nachforschen, was dies alles bedeutet und wie hoch die empfohlenen Verzehrmengen sind. Freilich ist das nicht wirklich praktikabel, wenn man vor dem Supermarktregal steht. Die Inhaltsstoffe sind aber natürlich per se alle gut untersucht und nicht gefährlich. Aus Sicht der Expertinnen und Experten ist es aber schon bedenklich, dass in solchen Produkten ein bisschen mehr Salz, Zucker und ungesunde Fette wie Transfette und gesättigte Fettsäuren als Geschmacksträger als nötig sind, damit sie besser schmecken.
APA-Science: Ist Fett wirklich so schlecht wie sein Ruf?
Pleiner-Duxneuner: Nein. Fett ist ein wichtiger Bestandteil unserer Ernährung und ein wunderbarer Energieträger. Es enthält pro Gramm doppelt so viel Energie wie Kohlenhydrate und Eiweiß. Das Problem ist aber, dass bei uns keine Mangel- sondern Überernährung herrscht. Es ist also ein Mengenproblem. Außerdem gibt es sehr unterschiedliche Varianten, etwa gesunde Fette mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren, zum Beispiel im Oliven- und Rapsöl sowie in Nüssen. Es gibt aber auch Fette, von denen man wenig konsumieren sollte, zum Beispiel jene tierischen Ursprungs mit gesättigten Fettsäuren und Transfetten. Letztere sind meist künstlich hergestellt und zum Beispiel in Margarine und Fertigprodukten enthalten. In den vergangenen Jahren wurden ihre Mengen dort aber deutlich reduziert. Solche Fette sind ungesund, weil sie die Blutwerte ungünstig verändern, also das "böse" LDL-Cholesterin erhöhen, was wiederum die Anfälligkeit auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigert.
APA-Science: Im Risikobarometer stehen auch Dinge, die ein bisschen skurril in Lebensmitteln klingen, wie Mikroplastik. Wie sehen Expertinnen und Experten hier den Wissensstand und die Risiken?
Pleiner-Duxneuner: Bei Mikroplastik verdichtet sich die medizinische Evidenz, dass größere Mengen im Körper tatsächlich problematisch sind. Das gilt auch für noch kleinere Nanoplastik-Teilchen. Sie können sich zum Beispiel in sogenannten Gefäßverkalkungen anlagern und mit schuld an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein. Auch Darmentzündungen sind dadurch möglich. In Österreich hat sich aber gezeigt, dass nur geringe Mengen an winzigen Plastikpartikeln in Lebensmitteln enthalten sind. Wo mehr Seefisch verzehrt wird, ist die Problematik aufgrund der Plastikproblematik in den Meeren größer. Auch bei in Österreich hergestellten Steinsalz konnten wir im Gegensatz zu Meersalz praktisch kein Mikroplastik nachweisen.
APA-Science: Wie sehr klafft die Risikowahrnehmung bei Expertinnen und Experten sowie der Bevölkerung bei Lebensmittelzusätzen auseinander?
Pleiner-Duxneuner: Die AGES-Expertinnen und -Experten sehen zum Beispiel künstliche Süßstoffe ein bisschen entspannter als Laien. Die Lebensmittelbehörden haben die vorgeschlagenen Höchstmengen immer so gewählt, dass man auf der sicheren Seite ist. Sie setzen also sehr niedrige Grenzwerte, bis die Evidenz voranschreitet. Wenn sich etwas als unproblematisch herausstellt, kann man die maximal empfohlenen Verzehrmengen anheben. Dies ist kürzlich beim künstlichen Süßstoff Saccharin passiert. Sollte sich bei einem Zusatz hingegen wirklich einmal herausstellen, dass er schädlich ist, wird er natürlich aus dem Verkehr genommen, oder die Grenzwerte werden auf ein unbedenkliches Maß herabgesetzt.
APA-Science: Gab es in jüngster Zeit tatsächlich Vorkommnisse, wo ein Risiko schlagend geworden ist, und etwas wirklich aus dem Verkehr genommen wurde?
Pleiner-Duxneuner: Das passierte etwa bei Softdrinks, wo es aber eine reine Vorsichtsmaßnahme war. Man ging davon aus, dass Metallstückchen eines Siebes in den Getränken gelandet sein könnten. Normalerweise passiert zwar nicht einmal etwas, wenn man so etwas schluckt, denn der Darm ist sehr robust. Zur Sicherheit der Konsumentinnen und Konsumenten wurden hier aber alle möglicherweise betroffenen Chargen aus dem Verkehr gezogen.
Problematischer sind bakterielle Verunreinigungen bei Lebensmitteln, das passierte rezent bei Tomaten und Rucola-Salat. Hier gab es sogar Krankheitsfälle mit Spitalsaufenthalten. Durch die von der Klimakrise vermehrten Hitzeperioden wird diese Problematik zunehmen. Insgesamt sind wir in Österreich aber immer noch sehr sicher. Bei 28.000 Laboruntersuchungen mit 1.400 Analysemethoden, die die AGES jährlich durchführt, mussten wir weniger als ein Prozent beanstanden.
APA-Science: In jüngster Zeit haben sich die biologischen und chemischen Analysemethoden extrem schnell weiterentwickelt. Ist das schon bei Lebensmitteltests angekommen?
Pleiner-Duxneuner: Ja, man kann heute viele Lebensmittelproben auf einmal, sehr schnell und beinahe kriminalistisch untersuchen. Wir sind aber nicht nur im Labor durch diese neuen Analysemethoden viel besser geworden, sondern auch bei der Vernetzung etwa der Warnsysteme in Europa. Wenn es in Deutschland oder Italien ein Problem gibt, wissen wir in Sekundenschnelle davon und können reagieren, etwa mit Rückrufen und Produktwarnungen. Mit einer App der AGES werden auch die Konsumentinnen und Konsumenten umgehend informiert.
APA-Science: Sind aus Ihrer Sicht verschiedenste Ernährungs- und Diät-Trends wie möglichst wenige Kohlenhydrate zu verzehren (Low Carb) oder sogar eine ketogene Ernährung mit viel Fett, Gemüse und Eiweiß bei starkem Kohlenhydrate-Verzicht problematisch?
Pleiner-Duxneuner: Zuerst waren die Fette 'so richtig böse', jetzt sind es anscheinend die Kohlenhydrate. Es stimmt: Beide führen im Übermaß zu schädlichem Übergewicht. Aktuell gibt es meiner Meinung nach einen Protein-Hype. Besonders viel Eiweiß zu konsumieren, wird aber von Expertinnen und Experten nicht empfohlen, denn die meisten Leute sind keine Spitzensportler, die größere Mengen davon benötigen. Im Übermaß können Proteine beispielsweise zu Nierenschäden führen. Wichtig ist laut Expertinnen und Experten eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse. Das ist auch in der neuen Ernährungspyramide so abgebildet. Außerdem sollte man mehr auf die Nachhaltigkeit und Regionalität der Produkte schauen. Ein Lebensmittel sollte idealerweise nicht einmal um den halben Erdball reisen, bevor es auf unserem Teller landet.
APA-Science: Wie kann man bei der gesunden Ernährung der Österreicherinnen und Österreicher aus Sicht der Expertinnen und Experten am besten Verbesserungen herbeiführen?
Pleiner-Duxneuner: Es braucht vor allem mehr Aufklärung, wo die Probleme hauptsächlich liegen: nämlich bei der Über- und Fehlernährung. Die Menschen sollten weniger auf die "Gesundheitsbotschaften" in den sozialen Medien hören, sondern lieber einmal Fachleute aus den Gesundheitsberufen, also Ärzteschaft, Ernährungswissenschafterinnen und -wissenschafter sowie Diätologinnen und Diätologen fragen.
Johannes Pleiner-Duxneuner ist Facharzt für Innere Medizin und klinische Pharmakologie mit Zusatzdiplom in Ernährungsmedizin. Er ist fachlicher Geschäftsführer der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und Direktor des Bundesamtes für Ernährungssicherheit (BAES). Davor arbeitete Pleiner-Duxneuner über 15 Jahre als Mediziner und Forscher an der Medizinischen Universität (Meduni) Wien.
Service: Risikobarometer 2024
Das Gespräch führte Jochen Stadler/APA-Science
(Dies ist eine entgeltliche Veröffentlichung der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit im Rahmen einer Medienkooperation. Die redaktionelle Letztverantwortung liegt bei APA-Science.)