Ukraine - Putin und die angebliche Verschwörung Österreich-Ungarns
Der russische Präsident Wladimir Putin hat in seiner "Rede an die Nation" am gestrigen Dienstag dem Westen vorgeworfen, aus der Ukraine ein "Anti-Russland" zu machen. Dabei sagte er laut auf Russisch veröffentlichten Redetext: "Dieses Projekt geht auf das XIX. Jahrhundert zurück. Es war in Österreich-Ungarn, in Polen und anderswo mit einem Ziel - diese historischen Gebiete, die heute als Ukraine bezeichnet werden, aus unserem Land herauszureißen."
Die Aussage sorgte international für Häme, denn einen polnischen Staat hatte es im gesamten 19. Jahrhundert nicht gegeben. Die drei Teilungen des Gebietes von Polen-Litauen - Mitte des 17. Jahrhunderts noch einer der flächenmäßig größten Staaten Europas - im Laufe des 18. Jahrhunderts (1772, 1793 und 1795) resultierten im Verschwinden eines souveränen Staates Polen. Die Gebiete hatten sich Preußen, das Habsburgerreich und das russische Zarenreich untereinander aufgeteilt, wobei Russland mehr als die Hälfte des Territoriums zufiel. Zwar existierte nach dem Wiener Kongress 1815 wieder ein "Königreich Polen" mit Warschau als Hauptstadt, dieses wurde jedoch vom russischen Zaren regiert. 1867 wurde das Gebiet auch offiziell von Russland annektiert.
Die vom Habsburgerreich 1772 besetzten Gebiete, die heute Teile von Südostpolen und dem Westen der Ukraine umfassen, wurden 1804 unter dem Namen "Königreich von Galizien und Lodomerien" dem Kaiserreich Österreich angegliedert. Die Bezeichnung basiert auf latinisierten Formen der mittelalterlichen Fürstentümer Halytsch und Wolodymyr. Weitere Gebiete Polens, die im Zuge der Dritten polnischen Teilung zu Österreich kamen, gingen großteils bereits im Zuge der napoleonischen Kriege wieder verloren.
Region fast ausschließlich landwirtschaftlich geprägt
Galizien war ein vielsprachiges Gebiet, in dem Polen, Ukrainer (im Habsburgerreich Ruthenen genannt) und Deutschsprachige, darunter ein recht hoher Anteil jiddischsprachiger Juden, lebten. Die slawische Bevölkerung war durchwegs katholisch, wobei die Ukrainischsprachigen im Gefolge der Union von Brest 1596 der griechisch-katholischen Kirche angehörten. Die Region war sehr arm und fast ausschließlich landwirtschaftlich geprägt, die Oberschicht bildeten polnische Landbesitzer.
Ab dem 19. Jahrhundert entstand in Galizien eine ukrainische Nationalbewegung, deren Vertreter angesichts der Dominanz der polnischsprachigen Elite die Gründung eines eigenen ukrainischsprachigen Kronlandes im Osten der Region anstrebten. Die Loyalität gegenüber Wien war in diesen Kreisen stark, eine Abspaltung vom Habsburgerreich oder gar ein Anschluss an Russland keineswegs das Ziel. Die Staatsführung in Wien bevorzugte nichtsdestotrotz eher die Polen; 1866 wurde Polnisch Amtssprache in Galizien, das in weiterer Folge weitgehende Autonomie erhielt. Die Auseinandersetzungen zwischen den Polen und Ukrainern prägten die weitere Entwicklung des wirtschaftlich rückständigen, von starker Abwanderung geprägten Gebietes bis zum Ende der Habsburgermonarchie 1918.
Eine weitere Region der Donaumonarchie mit bedeutender ukrainischer Bevölkerung war die Bukowina, 1775 vom Osmanischen Reich an Wien abgetreten. Heute gehört der Norden des ehemaligen Kronlandes zur Ukraine, der Süden zu Rumänien. Zudem gab es im Nordosten des ebenfalls unter Herrschaft der Habsburger stehenden Königreiches Ungarn eine bedeutende ruthenische (auch russinische) Bevölkerung. Diese Gebiete kamen nach dem Ersten Weltkrieg zur Tschechoslowakei und gehören heute zur Ukraine.
Ukrainisches Nationalgefühl als "Waffe" eingesetzt
Im Ersten Weltkrieg, als Österreich-Ungarn und Russland gegeneinander kämpften, wurde freilich das ukrainische Nationalgefühl beiderseits systematisch als "Waffe" eingesetzt. Die beiden verfeindeten Machtblöcke hätten nämlich bewusst den ukrainischen Nationalismus im gegnerischen Lager geschürt, um es zu schwächen, sagte der Lemberger Historiker Jaroslaw Hrystak 2014 in einem APA-Interview zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs. "Österreich-Ungarn und Deutschland setzten gegen Russland auf die nationale Karte, da die Ukrainer die zweitgrößte Volksgruppe im Russischen Reich waren, und Russland auf die sogenannte 'russophile Bewegung' im österreichisch-ungarischen Reich", erläutert der Historiker. "In diesem Krieg war der ukrainische Nationalismus der lachende Dritte."
Tatsächlich entstand im letzten Kriegsjahr auf dem zu Russland gehörenden Gebiet der Ukraine zunächst die unabhängige Ukrainische Volksrepublik, die nach Eingreifen der Mittelmächte vorübergehend in "Ukrainischer Staat" umbenannt wurde. In den ukrainischsprachigen Gebieten der Donaumonarchie wurde wiederum Ende 1918 die Westukrainische Republik gegründet, die sich 1919 mit der wiederhergestellten Volksrepublik vereinigte. Diese kurzlebigen Formationen waren die ersten ukrainischen Nationalstaaten im modernen Sinn. Sie gingen allerdings bald in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf.
Für Putin determiniert die Geschichte die heutigen politischen Entscheidungen, schildert der US-Historiker und -Jurist William Partlett in einem Artikel für die US-Fachzeitschrift "Perspectives on History": "Putin beschreibt die Invasion der Ukraine regelmäßig als technische Entscheidung, die von der Geschichte gefordert wird. In seiner Darstellung beweist die Geschichte, dass Russland und die Ukraine 'seit ewigen Zeiten' eins waren. Eine eigenständige, von Russland getrennte ukrainische Identität muss demnach einer Manipulation von außen entstammen und bedeutet eine existenzielle Bedrohung für Russland", analysiert der Professor an der australischen Universität Melbourne.
Ukrainer und Belarussen als "Bauernvölker"
Die US-Historikerin Faith Hillis beschreibt wiederum den historischen und geistigen Hintergrund von Putins Aussagen: "Was wir heute als Ukraine und Russland kennen, begann in der Ukraine, in der Stadt Kiew. (Gemeint ist das altslawische Großreich Kiewer Rus im Mittelalter, Anm.) (...) Sie hatten eine gemeinsame Religion, zeitweise eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Ideen. Doch beginnend mit dem 19. Jahrhunderts begannen einige russische Intellektuelle dieses Thema durch die Brille der Slawophilie zu sehen", schildert sie im Gespräch mit dem russischen Exil-Medium "Meduza". In der slawophilen Sichtweise "gehörten Russen, Ukrainer und Belarussen zu einer großen slawischen Nation. (....) Die Russen stünden allerdings an der Spitze, seien kulturell höherstehend, die Ukrainer und Belarussen seien 'Bauernvölker'", so die Professorin für russische Geschichte von der Universität Chicago.
Psychologisch sei Putins Haltung, sein "Zorn", indes mehr von dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 geprägt, analysierte sie. "Wir werden der Welt zeigen, wer der Chef ist, und wir werden auch der Ukraine zeigen, wer der Chef ist." Ihr Fazit: "Putin versucht nicht, die Sowjetunion als ideologischen Staat wiederherzustellen. Er versucht, das Russische Reich wiederherzustellen."
Von Petra Edlbacher/APA