Medizin-Nobelpreis: Ruvkun zeigte, wie man "mutig Wissenschaft macht"
Die Wiener Biologin Kristin Tessmar-Raible hat Ende der 1990er-Jahre am Labor von Neo-Medizin-Nobelpreisträger Gary Ruvkun an der Harvard Medical School als Gastforscherin mitgearbeitet: "Ich habe damals mitgenommen, dass man mutig Wissenschaft machen kann und coole Sachen dabei rauskommen können", und dass man sich keineswegs mit der Beantwortung einfacher Fragen zufrieden geben muss, wie sie gegenüber der APA erklärte.
Diese Meldung wurde aktualisiert. Neu: Weitere Reaktionen aus Österreich von Zellbiologe Jantsch und IMBA-Forscher Brennecke (Untertitel und ab 6. Absatz)
Die Forschungsgruppe des heute 72-Jährigen war 1997 und 1998 inhaltlich erstaunlich breit aufgestellt, erinnert sich die Neurobiologin, die sich an den von der Uni Wien und der Medizin-Uni Wien betriebenen Max Perutz Labs vor allem mit der Erforschung der molekularen und zellulären Uhrwerke von Organismen, also gewissermaßen den Rhythmen des Lebens befasst. Zur damaligen Zeit gingen Ruvkun und ein Teil seines Teams daran, zu zeigen, dass es microRNAs (miRNAs), für deren Entdeckung er zusammen mit seinem Kollegen Victor Ambros ausgezeichnet wird, nicht nur im Fadenwurm C. elegans gibt.
Vielfältig interessierter Gary Ruvkun
Im Labor des vielfältig interessierten Gary Ruvkun verfolgte man damals verschiedene Stoßrichtungen. Tessmar-Raible arbeitete zu der Zeit an Studien zur Entwicklung und Verschaltung von Nervenzellen (Neuronen), wie sie erklärte. Ruvkun habe aber zum Beispiel auch mitentdeckt, wie der Insulin-Signalweg mit der Lebenserwartung zusammenhängt - "auch das kommt mit aus seinem Labor".
Im Gegensatz zum häufig üblichen Umgang mit Studierenden an deutschsprachigen Universitäten - Tessmar-Raible studierte 1995 bis 2001 in Heidelberg - habe in Ruvkuns Umfeld ein anderer Zugang geherrscht: "Was mich damals geprägt hat, war, dass man dort eine 'Du-bist-ja-nur-eine-Studentin'-Mentalität überhaupt nicht gespürt hat." Sie habe sich dort sofort ernst genommen gefühlt und eine starke Neugierde im Team verspürt, "die nicht einfachen Dinge zu fragen", betonte die Biologin.
Mutationen im Erbgut des Wurmes
Ruvkun und Kollegen versuchten zu verstehen, was bestimmte Mutationen im Erbgut des Wurmes bewirken. Dabei fanden sie Gene, die sich nicht nach dem gängigen Dogma verhielten: "Sie haben nichts gefunden, das ein Eiweiß codiert hat." Es war "schon cool, das mitzuerleben", wie sich die Gruppe eben nicht von Rückschlägen beeinflussen ließ und letztlich einen neuen, grundlegenden Mechanismus entschlüsselt hat. Daraus lasse sich lernen: "Selbst wenn etwas erst einmal komisch aussieht, dann muss da wohl das Komische die Wahrheit sein." Die Entdeckung von microRNAs und ihrer Rolle in der Regulation von messengerRNA (mRNA), sowie damit der Veränderung der Proteinherstellung zeige, an wie vielen Stellen biologische Prozesse in Wirklichkeit flexibel sein können.
Die Zuerkennung des Medizin-Nobelpreises an Ambros und Ruvkun hat auch bei Forschenden der MedUni Wien Freude ausgelöst. Es ist "in relativ kurzer Zeit" der dritte Nobelpreis für die RNA-Forschung, sagte Michael Jantsch, Leiter der Abteilung für Zell- und Entwicklungsbiologie an der Hochschule. Das sei "eine tolle Entwicklung". Die ganze Entdeckung von microRNAs "gibt ein neues Level der Genregulation her", betonte er zur Arbeit von Ambros und Ruvkun.
"Eine neue Ebene" der Genregulation
Die Forschung der beiden habe gezeigt, dass es "regulatorische Mechanismen gibt, die komplexer sind, als man sie bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts verstanden hat", berichtete Jantsch im Gespräch mit der APA. Durch Ambros und Ruvkun kam dann die Erkenntnis, dass es "eine neue Ebene" der Genregulation gibt. Die entdeckten microRNAs sind "kleine, komplexe RNAs, die wir in unserem Genom mitherumtragen", erläuterte der Zellbiologe. "Der Durchbruch war das Verständnis, dass dieser nicht-codierende RNA-Abschnitt eine Funktion hat", sagte Jantsch.
Seit der Entdeckung der microRNA im Fadenwurm C. elegans wurden auch im menschlichen Genom mehr als 1.000 microRNAs identifiziert. Die Idee ist, dass microRNAs als Therapeutika angewendet werden, berichtete Jantsch. Dazu laufen bereits "viele klinische Studien", von denen einige schon in Phase-II seien, etwa gegen Hepatitis C. Auch Therapien gegen Krebserkrankungen könnten künftig auf Basis der microRNA-Forschung möglich sein. Gegen das seltene Alport-Syndrom gibt es bereits eine provisorische Zulassung eines Medikaments in Europa und den USA, berichtete der MedUni-Forscher.
"Plädoyer für die Grundlagenwissenschaft"
Jantsch bezeichnete die Arbeit von Ambros und Ruvkun als "Plädoyer für die Grundlagenwissenschaft". In eine ähnliche Kerbe schlug Julius Brennecke vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien, wo Ruvkun dem "Scientific Advisory Board" angehört und in dieser Funktion erst in der Vorwoche in Österreich war. Forschungen an C. elegans oder an der Fruchtfliege Drosophila würden "immer stiefmütterlich behandelt", weil es einen starken Fokus auf den Menschen oder Säugetiere gebe, sagte der am IMBA tätige Deutsche.
Ambros und Ruvkun seien zwei Topwissenschafter deren Arbeit "absolute Pionierleistung" war und die auf dem Gebiet "von Neugier getriebener Grundlagenforschung" ausgezeichnet werden, betonte Brennecke. Es sei Forschung, die eine neue Dimension eröffnet hat und "an die überhaupt niemand gedacht hat". Man habe nicht gewusst, dass es so etwas wie microRNA überhaupt gibt. Die Forschung der beiden sei außerdem ein "Paradebeispiel" für Kollegialität. Ambros und Ruvkun waren beide als Postdoktoranden im gleichen Labor, hätten dann eigene Labors aufgemacht und sich in Telefonaten ausgetauscht und festgestellt, dass ihre Sequenzen zueinanderpassen, berichtete Brennecke. Das sei "wahnsinnig schön" an der Forschung von Ambros und Ruvkun.
Boom in der Molekularbiologie
Die Entdeckung der microRNAs war "eine der größten Revolutionen in der Molekularbiologie seit Jahrzehnten" und hat einen Boom in der Molekularbiologie ausgelöst, erläuterte Brennecke. Das sei auch für den vor etwas mehr als 20 Jahren gegründeten IMBA-Standort in Wien eine "spannende Sache" gewesen.
Erst im Vorjahr war der Medizin-Nobelpreis an die Ungarin Katalin Karikó und den US-Forscher Drew Weissman für ihre Entdeckungen zur Modifikation der Nukleosidbasen, die die Entwicklung wirksamer mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 ermöglichten, gegangen. 2006 hatte es den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung der RNA-Interferenz gegeben. Die US-Forscher Andrew Z. Fire und Craig C. Mello hatten auf der Pionierarbeit von Ambros und Ruvkun aufgebaut, berichtete Brennecke und seien ebenfalls "absolut berechtigt" ausgezeichnet worden.