"La Ola" in Milchstraße: Unsere galaktische Nachbarschaft schwingt
Vor einigen Jahren entschlüsselten Wiener und US-Forscher die 3D-Struktur unserer galaktischen Nachbarschaft. Demnach handelt es sich bei zusammenhängenden Gaswolken in der Nähe des Sonnensystems nicht - wie lange angenommen - um einen ringförmigen Gürtel rund um das Sonnensystem, sondern um eine wellenförmige Struktur im lokalen Arm der Milchstraße. Nun berichten sie im Fachjournal "Nature", dass sich diese "Radcliffe-Welle" genannte Struktur auch wie eine Welle bewegt.
Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten der britische Astronom John Herschel und sein US-Kollege Benjamin Gould einen vermeintlichen Ring heller Sterne, der nicht in der Ebene der Milchstraße, sondern leicht geneigt dazu liegt. Bei dieser "Gouldscher Gürtel" (Gould Belt) genannten Struktur handelt es sich um eine großräumige Ansammlung von Gaswolken mit jungen Sterne und Sternentstehungsgebieten.
Bei der Auswertung von Daten des europäischen Weltraumteleskops "Gaia" zur Erstellung einer detaillierten dreidimensionalen Karte der interstellaren Materie in der Milchstraße stießen Astronomen der Universitäten Wien und Harvard vor vier Jahren auf eine riesige Struktur in unmittelbarer Nachbarschaft des Sonnensystems. Aufgrund seiner Wellenform gaben sie dem rund 9.000 Lichtjahre langen und etwa 400 Lichtjahre breiten Gebilde den Namen "Radcliffe-Welle". Diese erstreckt sich bis zu 500 Lichtjahre oberhalb und unterhalb der Mittelebene der Galaxienscheibe und umfasst viele jener Sternentstehungsgebiete, die bis dahin dem "Gouldschen Gürtel" zugeordnet wurden.
So nah, und doch nicht sichtbar
"Die Sonne ist nur 500 Lichtjahre von der Welle entfernt. Sie war die ganze Zeit direkt vor uns, aber wir konnten sie nicht sehen", erklärte damals Joao Alves vom Institut für Astrophysik der Universität Wien, der gemeinsam mit den Harvard-Kollegen die Ergebnisse in "Nature" publizierte. Nun nutzte die Forschergruppe neue Daten von "Gaia", um die dreidimensionale Bewegung der Struktur zu entschlüsseln.
Sie untersuchten dazu die Bewegung der jungen Sterne, die erst vor kurzem aus Gaswolken entlang der Radcliffe-Welle geboren wurden. Es zeigte sich, dass sich die gesamte Radcliffe-Welle "als Wanderwelle bewegt", so Alves in einer Aussendung der Uni Wien. Der Astronom vergleicht diese Bewegung mit der Stadionwelle "La Ola", bei der die Zuschauer eine sich durch die Sportarena bewegende Welle imitieren, indem sie nacheinander kurz aufstehen, die Arme hochreißen und sich wieder setzen.
Nachdem die Wissenschafter nun verstehen, wie die Radcliffe-Welle physikalisch funktioniert, "kann sie unser Labor im Weltall sein und uns so zu weiteren Erkenntnissen verhelfen", betonte Alves. So deutet ersten Erkenntnissen zufolge die Art der Schwingung der Welle darauf hin, "dass es keine signifikante Menge an Dunkler Materie in unserer galaktischen Nachbarschaft gibt".
Die Forscher zeigten weiters, dass die Struktur radial vom galaktischen Zentrum weg driftet. Dies deute wieder darauf hin, dass in der Radcliffe-Welle jene Sternencluster entstanden sein könnten, in denen jene Sternenexplosion (Supernovae) stattfand, die vor rund 15 Mio. Jahren die sogenannte "Lokale Blase" gebildet hat, ein rund 1.000 Lichtjahre großer, staubfreier Hohlraum rund um unsere Sonne, schreiben sie in ihrer Arbeit.
Den aktuellen Daten zufolge dürfte die "Radcliffe-Welle" zudem das "Rückgrat" unseres nächsten Spiralarms in der Milchstraße bilden, macht sie doch fast die Hälfte von dessen Länge und rund ein Fünftel seiner Breite aus. Die Forscher fragen sich daher, ob man aus der Bewegung der Welle schließen kann, dass Spiralarme von Galaxien im Allgemeinen schwingen. "Dann wären Galaxien noch dynamischer als bisher angenommen", so Alves.
Service: Internet: http://dx.doi.org/10.1038/s41586-024-07127-3