Risikobarometer: Klimawandel, soziale Ungleichheit und Umweltverschmutzung als größte Sorgenmacher
Über den hohen Salz- und Zuckergehalt ihres Essens macht sich die heimische Bevölkerung kaum Sorgen. Hingegen bereiten Klimawandel, soziale Ungleichheit und Umweltverschmutzung das größte Unbehagen, zeigt der zum zweiten Mal von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und dem Umweltbundesamt erhobene Risikobarometer. Generell ist die Beunruhigung in allen abgefragten Bereichen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.
Klassische Medien – Fernsehen, Tageszeitungen, Zeitschriften - bleiben unangefochten die wichtigste Quelle für die Österreicher, um sich über Risikothemen zu informieren, ergab die repräsentative Online-Umfrage, die im Zeitraum September/Oktober 2018 durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt der Befragung standen Lebensmittel, Lebensmittelsicherheit sowie Umweltverschmutzung.
Hohes Risikobewusstsein bei Lebensmitteln
Im Schnitt sind die Befragten im Bereich Lebensmittel deutlich stärker beunruhigt (65 Prozent sehr Besorgte) als bei der Umweltverschmutzung (56 Prozent). Wie Ernährungsexpertin Ingrid Kiefer, Leiterin des Fachbereichs Risikokommunikation in der AGES ausführt, lässt sich erneut eine Kluft zwischen der Risikowahrnehmung der Bevölkerung und jener von Fachleuten feststellen. Während bei der Bevölkerung etwa große Angst vor Hormonen herrscht, wird zu fettes, salziges oder süßes Essen kaum als großes Risiko wahrgenommen - ganz im Gegensatz zur Expertenmeinung. "Hier rangieren Ernährungsrisiken ganz oben", erklärt Kiefer. "Daher ist es uns wichtig, diesbezüglich mehr Bewusstsein zu schaffen und interessierten Verbraucherinnen und Verbrauchern entsprechende Informationsmöglichkeiten wie das Online-Tool "Lebensmittel unter der Lupe" anzubieten."
Ebenfalls abgefragt wurde, welche Eigenschaften an Lebensmitteln am höchsten geschätzt werden. Das Ergebnis: Sicherheit und Qualität, gefolgt von Herkunft, Nachhaltigkeit und Regionalität. "Bio-Produkte sind den Befragten weniger wichtig als der Preis", so eine weitere Erkenntnis.
Risikokommunikation wirkt
Dass Risikokommunikation wirkt, zeigt sich für Kiefer am Beispiel Schimmelpilz. "Hier herrschte im Vorjahresbericht nur ein sehr geringes Bewusstsein. Wir haben darauf mit einer Informationsoffensive reagiert, mit Verbrauchertipps, aber auch mit vielen Interviews in Medien. Nun wird das Risiko von zwei Dritteln der Befragten als relativ hoch eingeschätzt, und bei einem großen Teil der Befragten konnte auch eine Verhaltensänderung - das eigentliche Ziel jeder Risikokommunikation - bewirkt werden", freut sich die Expertin. Auch die als Folge des letzten Risikobarometers intern angegangene Suchmaschinen-Optimierung der AGES-Website zeitige Erfolge: "Wir landen bei Risikothemen in der Google-Suche mittlerweile oft schon auf Seite eins", stellt sie fest. Sehr positiv sei auch das Ergebnis, dass die Bereitschaft, angesichts von Risikoberichten das Verhalten zu ändern, steige.
Etwas verblüffend findet Kiefer, dass sich Menschen vor Risiken fürchten, deren Vermeidung sie durch eine gewisse Sorgfalt selbst in der Hand hätten. "Etwa beim Kochen oder Grillen, wo bei unachtsamem Umgang gesundheitsgefährdende Substanzen entstehen können." Überrascht hat die Fachfrau auch der allgemein optimistischere Ausblick der Befragten auf Datensicherheit und Gentechnik, auch wenn letztere bei offenen Fragen spontan immer noch als beunruhigend genannt wird. "Dabei gibt es in Österreich ein Anbauverbot von gentechnisch veränderten Organismen, wir sehen kein reales Problem mit Gentechnik. Mit dieser Einstellung ist Österreich einzigartig in Europa", meint die Expertin. Beunruhigung herrsche auch beim Thema Antibiotikarückstände in Lebensmitteln. "80 Prozent nehmen hier ein hohes Risiko wahr. Aus unserer Sicht ist das ebenfalls wenig nachvollziehbar. Wir führen ja regelmäßig Untersuchungen durch und stellen kaum Rückstände fest", so Kiefer.
Aufreger Pflanzenschutzmittel und Abfall
Was die Umwelt betrifft, so steht bei den jüngsten Befragten (16- bis 24-Jährige) bei den allgemeinen Fragen der Klimawandel an erster Stelle der Sorgenkinder. In der mittleren Altersgruppe beunruhigt die soziale Ungleichheit am stärksten, für die ältesten Umfrageteilnehmer (65+) ist die Umweltverschmutzung am problematischsten. "Im Bereich der einzelnen Umweltrisiken hat sich im Grunde die Umfrage vom Vorjahr bestätigt", weiß Karl Kienzl, stellvertretender Geschäftsführer des Umweltbundesamts. Die meisten Sorgen in puncto Umweltverschmutzung (Männer: 74 Prozent, Frauen: 72 Prozent) bereiten Pflanzenschutzmittel in Böden, gefolgt von Abfallmengen und dem Umgang mit Abfall. Für Kienzl wenig nachvollziehbar: "Österreich steht gerade bei der Abfallsammlung europaweit gut da. Vielleicht spielt hier das medial zuletzt stark präsente Plastikthema hinein", vermutet er. Erst danach rangieren der Verlust von Natur sowie die Bodenversiegelung. Am wenigsten beunruhigt zeigten sich die Befragten in puncto Radioaktivität und Wasserqualität (M: 29 Prozent/F: 37 Prozent).
Erfreulich findet der Umweltbundesamt-Experte indes das nun langsam steigende Bewusstsein für den viel zu hohen Flächenverbrauch in Österreich. "An dem Thema sind wir seit zehn Jahren dran", weist er auf den durchaus notwendigen langen Atem hin.
Bewusstsein für echte Risiken schärfen
Überraschend wenig Anlass zur Sorge bereitet den Österreichern die Luftqualität - trotz Feinstaub- und Stickstoffdioxid-Diskussion. Auch die Beunruhigung rund um industriell verursachte Umweltverschmutzung ist zurückgegangen. "Grob unterschätzt werden nach wie vor die Risiken hinsichtlich der Stromversorgung und eines Blackout", betont Kienzl. Deutlich zu wenig Bewusstsein ortet er zudem für den Verlust der naturnahen Lebensräume. "Besonders Menschen in den Städten nehmen das Bienen- und Vögelsterben und den starken Rückgang bei Insekten weniger stark wahr", bedauert er.
Wie wirkt man nun unbegründeten Sorgen entgegen? Dazu die Ernährungsexpertin Kiefer: "Wenn es aus unserer Sicht um relativ vernachlässigbare Risiken geht wie Antibiotikarückstände oder - natürlich ärgerliche - Täuschungen bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln, setzen wir als erstes auf vertrauensbildende Maßnahmen." Bei echten Risiken laute das Ziel, Bewusstsein zu schaffen und eine Verhaltensänderung zu bewirken. "Aber ohne Verbote! Das macht keinen Sinn", ist sie überzeugt.
Blick für Gefahr ist weiblich
Frauen sehen mehr Risiken als Männer und stellen ihr Verhalten auch langfristig eher um als Männer. Am resistentesten gegenüber Risikoberichten sind junge Männer zwischen 16 und 24 Jahren. Das sei auch schwer zu ändern. "Natürlich müssen wir alle Gruppen erreichen, wenn wir über akute, echte Risiken informieren", sagt Kiefer. "Aber grundsätzlich ist es zielführender, Energie dort zu investieren, wo sie am meisten bewirkt", schränkt sie ein.
Nach wie vor rangieren klassische Medien unangefochten auf Platz eins als wichtigste Informationsquelle, um sich über Risikothemen zu informieren. "Fernsehen, Tageszeitungen und Zeitschriften landen in der Umfrage weit vor Social Media, auch bei den Jungen", so Kiefers Erkenntnis. "Mit Facebook erreicht man beispielsweise hauptsächlich Frauen. Junge Frauen wiederum greifen auch gern auf Videos als Informationsquelle zurück", erzählt sie. Aus diesem Grund produziere die AGES verstärkt Bewegtbilder zu Risikothemen.
Kampf gegen Halbwahrheiten
Großes Augenmerk legt die Fachfrau darauf, dass mit wissenschaftlichen Ergebnissen sorgfältig umgegangen und Risiken verständlich dargestellt werden. "Wir wollen weder untertreiben noch Angst erzeugen, sondern bei den Fakten bleiben und auch nichts schönreden."
Kienzl ortet den Grund für das fehlende Bewusstsein auch in der medialen Berichterstattung und willkürlichen Gewichtung von Fakten. "Wenn die Autoindustrie eine gesundheitspolitische Debatte über die Grenzwerte von Feinstaub und Stickstoffdioxid-Emissionen lostritt, wie das in Deutschland der Fall war, und Medien für das Thema nicht kompetenten Experten eine Bühne bieten, fehlt mir dafür das Verständnis."
Der Kampf gegen Falschinformationen werde vom Umweltbundesamt konsequent geführt. Wie zum Beispiel mit Informationen im Internet über die jahrzehntelange medizinische Forschung, die hinter den Grenzwerten für Luftqualität steht. "Wir sind eine Expertenorganisation und wollen mit objektiven Informationen emotionale Diskussionen versachlichen", betont Kienzl.
Im Dialog mit der Gesellschaft
Langfristig könne man Fake News nur mit einer informierten Bevölkerung die Stirn bieten, ist er überzeugt. Dazu beitragen will das Umweltbundesamt mit unterschiedlichen Formaten, die sich teilweise an die Öffentlichkeit bzw. Zivilgesellschaft, teilweise an Wirtschaft und Industrie richten. Ein Beispiel dafür ist der Risikodialog, eine Initiative von Umweltbundesamt und Ö1, die sich seit zwölf Jahren mit Zukunftsthemen auseinandersetzt. Gemeinsam mit der ARA (Altstoff Recycling Austria) wird heuer das Thema Kreislaufwirtschaft als Schwerpunkt gestaltet.
Fortgeführt wird im Rahmen des Risikodialogs laut Umweltbundesamt "Mut zur Nachhaltigkeit", die wissenschaftliche Vortragsreihe mit Dialogteil. Öffentliche Diskussionen plane man zum Thema Digitalisierung und Demokratie. Dazu wird es auch eine eigene Veranstaltungsreihe rund um Gesellschaft und Technik mit dem Institut für Technikfolgen- Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geben.
Beim Thema Klimawandel und Ernährung werde der Dialogprozess von vornherein stärker transdisziplinär, also auf gemeinsames Tun und gemeinsame Projekte, ausgerichtet. Junge Zielgruppen will man mit neuen bzw. aktualisierten Formaten wie dem zuletzt durchgeführten Wettbewerb Youth Energy Slam ansprechen. Der künstlerische Performance-Event soll von der Jugend-Umweltplattform JUMP weitergeführt werden und die Vernetzung mit der Slam-Community nutzen.
"Auch Social Design ist uns wichtig – also die Frage, wie man die Transformation, die Energiewende, gesellschaftspolitisch voranbringt", erklärt Kienzl. So wolle man neben dem Austausch von Perspektiven und dem ExpertInnendialog verstärkt Ansätze suchen und ausprobieren, um beim individuellen Verhalten des Einzelnen anzusetzen.
Die AGES ist im Bereich Dialogkommunikation ebenfalls aktiv. "Zahlreiche Veranstaltungen – von Tagungen bis hin zu Stakeholder-Dialogen zu speziellen Themen – tragen dazu bei, dass kontroverse Diskussionen sachlich und faktentreu geführt werden, um dann die österreichische Bevölkerung mit einheitlichen, leicht verständlichen Botschaften richtig informieren zu können", betont Kiefer.
Service: Risikobarometer Umwelt & Gesundheit 2018 zum Download unter https://www.ages.at/wissen-aktuell/publikationen/risikobarometer-2018