Forscher schließen mit KI und Wikipedia auf historisches BIP pro Kopf
Historische Daten zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf liegen nur lückenhaft vor. Das erschwert die Analyse langfristiger, Jahrhunderte übergreifender wirtschaftlicher Entwicklungen. Mit Hilfe des maschinellen Lernens ist es nun einem Team um Philipp Koch von EcoAustria in Wien gelungen, BIP-Schätzungen für eine große Anzahl von Ländern und Regionen in Europa und Nordamerika aus den vergangenen 700 Jahren zu gewinnen - nämlich auf Basis von Wikipedia-Einträgen.
"Vor dem 20. Jahrhundert konnten wirtschaftliche Kennzahlen wie das BIP pro Kopf noch nicht systematisch erhoben werden", sagte Koch, der die Studie mit Kollegen vom Center for Collective Learning in Toulouse (Frankreich) durchführte, zur APA. Weiter zurückreichende Schätzungen gingen auf meist lückenhafte historische Dokumente und spärliche wirtschaftliche Aufzeichnungen zurück. Die Forscher um Koch, der derzeit auch als Doktorand an der Universität Toulouse tätig ist, stellten nun im Fachjournal "PNAS" einen unkonventionellen Ansatz vor, wie die Datenlücken zu schließen sind.
Daten von rund 563.000 historischen Persönlichkeiten
Sie griffen kurzerhand auf biografische Daten von rund 563.000 historischen Persönlichkeiten zurück, die sie öffentlich zugänglichen Quellen wie Wikipedia und Wikidata entnahmen. Alle berücksichtigten Individuen lebten in Europa oder Nordamerika, hatten einen nachvollziehbaren Beruf, waren nach dem Jahr 1100 geboren und hatten mindestens in zwei Sprachen verfasste Wikipedia-Einträge.
Neben den konkreten Daten zu Geburts- und Sterbeort oder Beruf "haben die Biografien berühmter Persönlichkeiten indirekt auch noch andere Informationen geliefert, die für eine Ableitung des BIP pro Kopf relevant sein können", sagte der Ökonom. Man könne etwa Migrationsbewegungen herauslesen oder das durchschnittliche Lebensalter von Personen einer Region ableiten, was wiederum auf die Gesundheit der Menschen rückschließen lasse.
Indikatoren für Wohlstand
Erfinder und Wissenschafter könnten jedenfalls als Indikatoren für Wohlstand gelten: "Gleichzeitig sind wohlhabendere Regionen eher in der Lage, Talente anzuziehen, lokale Talente sichtbarer zu machen und den Menschen die notwendigen Möglichkeiten zur Spezialisierung zu bieten. Vereinfacht gesagt: Dass Michelangelo so berühmt geworden ist, sagt etwas über den Wohlstand der Toskana im 15. Jahrhundert aus", wurde Koch in einer Aussendung zitiert.
Gefüttert mit diesen biografischen Daten und Wirtschaftsdaten anderer Quellen kombinierte das von den Forschern entwickelte Modell mit Hilfe des maschinellen Lernens wichtige Merkmale, die das BIP pro Kopf für bestimmte Zeiträume (in 50er-Jahr-Schritten bis zum Jahr 2000) und für bestimmte Gegenden in Europa (auch Österreich) und Nordamerika schätzen lassen. Als ein Beispiel: "Wir haben zeigen können, dass das BIP pro Kopf von Lissabon nach 1750 stark sank", heißt es in der Studie. Diese Beobachtung stimme mit dem desaströsen Erdbeben überein, welches Portugals Süden 1755 traf und schwerwiegende wirtschaftliche Folgen nach sich zog. Zugleich habe sich gezeigt, dass andere Regionen Portugals nicht von dem Einbruch betroffen waren.
"Unser Ansatz war quasi ein 'shot to the moon'", so Koch zur APA über die anfängliche Unsicherheit über den Nutzen des Unterfangens: "Aber es hat gut funktioniert. Wir haben mit unseren Schätzwerten 90 Prozent der Varianz bisher bekannter historischer Einkommensniveaus erklären können."
Die vom Modell ausgeworfenen Werte bestätigen zudem die bisher nur in wissenschaftlicher Literatur beschriebene Bedeutung des Atlantischen Handels vor der Industriellen Revolution: England und Länder an der Küste Nordwesteuropas (vor allem die Niederlande) erfuhren zwischen 1300 und 1800 ein größeres Wirtschaftswachstum als Länder Südeuropas. Die aktuellen Daten bekräftigen die Annahme, dass die am Atlantik gelegenen Häfen und der entsprechende Warenverkehr dabei keine unerhebliche Rolle spielten.
Historische Ereignisse in neuem wirtschaftlichen Kontext
Mit dem neuen Modell könne man Daten zum BIP pro Kopf für Zeiträume und Gegenden liefern, wo es bisher noch keine verlässlichen Daten gab - sie könnten vielleicht auch dem "Maddison Project", der bis dato größten Datensammlung zu historischen BIP-pro-Kopf-Daten, dienen, hofft Koch: "Unsere neu gewonnenen Daten ermöglichen es, historische Ereignisse in einem neuen wirtschaftlichen Kontext zu betrachten."
Mit dem Modell liegen nun auch Daten für Österreich und seine Bundesländer vor dem Jahr 1820 vor. "Basierend auf unseren Schätzungen zeigte sich etwa, dass Wien im 17. und 18. Jahrhundert ein sehr ähnliches Wohlstandsniveau - und teils sogar höheres - als Paris hatte, Paris aber im 19. Jahrhundert ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum verzeichnete", so Koch. In einem interaktiven Online-Tool können die BIP-pro-Kopf-Daten abgerufen werden.
Service - Studie: https://doi.org/10.1073/pnas.2402060121
Interaktives Datentool: https://philmkoch.github.io/historicalGDPpc_app/