Wie der Umgang mit Wissen politische Entscheidungen beeinflusst
Die Frage, auf welches Wissen sich Entscheidungen stützen, stellt sich insbesondere im Wahljahr 2024: "Sie ist keine abstrakt-philosophische, sondern immer schon eine Schlüsselfrage der Demokratie gewesen", sagte der kanadische Historiker und ehemalige Rektor der Central European University (CEU), Michael Ignatieff, zur APA. Politikerinnen und Politikern legt er Lern- und Kommunikationsbereitschaft sowie einen unaufgeregten Umgang mit wissenschaftlicher Evidenz nahe.
"Was für ein geteiltes Wissen, welche geteilten Fakten brauchen wir, um die Demokratie zu erhalten?", so beschrieb Ignatieff die grundlegende Frage, die im Rahmen des FWF-Exzellenzclusters "Wissen in der Krise" beforscht und heute, Mittwoch, Abend bei einer Veranstaltung desselben diskutiert wird. Mitunter durch Social Media sei eine Fragmentation im Hinblick auf die Wahrheit entstanden: "Wir sind nicht nur uneins darüber, welche Prioritäten und Werte in politische Entscheidungen einfließen, sondern auch in der fundamentalen Sicht auf die Realität - das bedroht die Möglichkeit, überhaupt ein demokratisches System zu haben", erklärte der Historiker.
Riesige Mengen an Wissen aber auch Nonsens
"Weil ich sehr alt bin, erinnere mich noch an eine Zeit, in der es nur ein paar Zeitungen und einen öffentlichen Rundfunk gab. Die Frage, welchem Wissen Autorität zugestanden wird, war damals sehr schnell beantwortet", sagte Ignatieff. Heutzutage biete hingegen jedes Smartphone Zugang zu riesigen Mengen von Wissen, aber auch zu "Nonsens". Einer der Reize autoritärer Regime hänge mit dieser Datenflut zusammen: Denn der autoritäre Führer erklärt, was echt ist und was nicht - in einer liberalen Demokratie muss die Realität hingegen immer wieder durch Debatten neu verhandelt werden.
"Das Problem in der sogenannten illiberalen Demokratie, wie im Fall der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán, ist dann allerdings, dass die Trennlinie zwischen Propaganda und Wissen kollabiert", erklärte Ignatieff. Das führe zu handfesten Problemen: Beispielsweise sei die Covid-Todesrate in Ungarn wesentlich höher gewesen als in Österreich - "weil die Regierung inkompetent war, schlechten Rat erteilt hat, die falschen Impfstoffe gekauft hat und vieles mehr", sagte der Historiker.
Wissenschaftliche Erkenntnisse besser erklären
"Im Laufe der Pandemie hat sich zudem gezeigt, dass die Wissenschaft an sich gesellschaftlich infrage gestellt wird. Das hat uns die Illusion, dass sie eine gemeinsame Basis für demokratische Diskussionen schafft, genommen", sagte Ignatieff. So gebe es einerseits einen Teil der Öffentlichkeit, der der Wissenschaft gegenüber sehr skeptisch ist, und andererseits sei eben die Wissenschaft nicht immer sofort einstimmig sicher. Politiker und Politikerinnen sollten daraus Lehren ziehen: "Sie müssen die wissenschaftlichen Ergebnisse sowie die Gründe der darauf basierenden Handlungen ausreichend erklären", so der Historiker.
Für Politiker sei es zudem zentral zu verstehen, dass die eigene Weltsicht nicht von allen ihren Mitbürgern geteilt wird, erklärte Ignatieff, der von 2016 bis 2021 Rektor der CEU war sowie für einige Jahre auch den Vorsitz der Liberalen Partei Kanadas innehatte. Denn die Wissenskrise der Demokratie habe auch mit einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft zu tun, in der sich Personen im Hinblick auf ihre Lebenswelten, aber auch auf Klasse, Gender, Sprache, Ethnizität, Nationalität und Region unterscheiden. Damit einher gehen fundamentale Unterschiede in der gelebten Erfahrung sowie ein großes individuelles Wissen in der jeweiligen Lebensrealität, welches wiederum in politischen Diskussionen nicht ignoriert werden darf. Für den Wissenschafter ist ein realistisches, modernes Ideal der Demokratie daher "jenes Regierungssystem, das wir benutzen, um diese Unterschiede zu regeln - im konstanten Dialog über Unstimmigkeiten".
"Politische Kampagnen, die auf Fake News basieren, funktionieren hingegen, weil wir lieber das hören wollen, was wir ohnehin glauben", sagte Ignatieff. Diese grundlegend menschliche Eigenschaft betreffe alle, "vom Universitätsprofessor bis zum Handwerker". Durch Steigerung der Medienkompetenz könne man die Fähigkeit, Informationen kritisch zu hinterfragen, stärken. "Aber ich denke, trotzdem wird unterschätzt, wie wenig Zeit die meisten Menschen investieren, um sich eine Meinung zur Politik zu bilden - auch das ist ein Problem", so Ignatieff weiter.
"Man muss bei alledem aber auch die positiven Seiten sehen", plädierte der Wissenschafter. Entscheidungsträger haben heutzutage sehr viel mehr wissenschaftliche Informationen als je zuvor, um einzelne Krisen, aber auch die gesamte Ökonomie besser zu managen. Zudem sei Social Media mit kaum 15 Jahren historisch gesehen ein recht junges Phänomen und die Kompetenz in diesem Feld in kurzer Zeit rasant angestiegen. "Zuletzt brauchen wir Politiker, die in unsicheren Zeiten nicht panisch werden und sich auf wissenschaftliche Evidenz verlassen. Und wir müssen unser Wahlrecht nutzen, um jene Politiker, die lügen, abzustrafen", so Ignatieff. So gebe es etwa Daten, die darauf hinweisen, dass Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl 2020 wegen seiner schlechten Performance im Umgang mit der Coronapandemie verloren habe. "Wir sind also nicht hilflos", resümierte der Wissenschafter.
Service: Podiumsdiskussion "Why Do We Disagree About Politics? The role of knowledge in democratic societies", 21. Februar, 19.30 bis 22.00 Uhr: https://go.apa.at/6