70 Jahre CERN - Europas Physik-Hub lieferte auch Alltags-Technologie
Das Europäische Labor für Teilchenphysik CERN feiert am Sonntag (29. September) seinen 70. Geburtstag. Von den teils bahnbrechenden Erfindungen der Einrichtung nahe Genf profitieren mittlerweile auch viele Menschen im Alltag: beim Internetsurfen, beim Arztbesuch und vielem mehr. Quasi hauptamtlich will die Organisation allerdings dem Ursprung des Universums auf die Spur kommen.
Der Name CERN ist die Abkürzung des französischen Namens der Organisation: Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (Europäischer Rat zur Nuklearforschung). Direkt beim CERN arbeiten etwa 2.500 Leute, die Kollaborationen mit Physikerinnen und Physikern in aller Welt, die Daten auswerten, umfassen mehr als 17.000 Menschen. Unter den 24 Mitgliedsländern des CERN findet sich auch Österreich. An der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wurde das auch für die heimische Wissenschaftsgemeinde wegweisende Jubiläum bereits im Juni mit einer "Science Week" begangen. Zentraler Anknüpfungspunkt hierzulande ist das Institut für Hochenergiephysik (HEPHY) der ÖAW.
Die Großforschungseinrichtung befasst sich primär mit der physikalischen Grundlagenforschung. Bekannt wurde sie vor allem für ihre großen Teilchenbeschleuniger, mit deren Hilfe der Aufbau der Materie erforscht wird. Damit wurden nobelpreisgewürdige Entdeckungen wie jene des lange gesuchten Higgs-Teilchens möglich, aber auch Erfindungen wie jene des World Wide Web (WWW).
Einige am CERN entstandene Erfindungen:
1989 präsentierte der britische Physiker und Informatiker Timothy John Berners-Lee am CERN eine Idee, die sich als bahnbrechend für die Internet-Kommunikation herausstellen sollte: ein digitales Informationsnetz, bei dem die Inhalte als universeller Hypertext aufbereitet und mit anklickbaren Links vernetzt werden. Innerhalb weniger Monate entwickelte Berners-Lee die notwendigen Komponenten: URLs wie info.cern.ch für Web-Adressen, die Seitenbeschreibungssprache HTML für Web-Pages, das technische Protokoll HTTP für Links und das Konzept für einen Webbrowser. Im April 1993 stellte das CERN den Programmcode des World Wide Web (WWW) der Öffentlichkeit zu Verfügung und begründete damit einen beispiellosen Siegeslauf der Web-Technologie.
Der dänische Ingenieur Bent Stumpe entwickelte am CERN Vorläufer zweier weiterer heute gängiger Anwendungen, und das schon in den 1970er-Jahren: Er präsentierte den ersten transparenten Touchscreen, auf dem - wie heute bei jedem Smartphone oder Tablet - die Berührung des Bildschirms reicht, um Dinge zu bewegen. Mit Bowlingbällen baute er einen Trackingball, mit dem ein Cursor auf dem Bildschirm bewegt werden kann - ein Vorläufer der Computer-Maus.
Am CERN wird erforscht, was in den ersten Sekunden nach dem Big Bang, der Geburtsstunde des Universums, geschah. Ob es noch kleinere Teilchen als Quarks gibt und was es mit der Antimaterie auf sich hat. Um den Zustand unmittelbar nach dem Urknall zu simulieren, hat das CERN den Teilchenbeschleuniger LHC gebaut. In einem 27 Kilometer langen, ringförmigen Tunnel 100 Meter unter der Erde im schweizerisch-französischen Grenzgebiet werden Protonen oder Ionen mit hoher Energie zur Kollision gebracht.
PET-Scan macht Zellen oder Gewebe sichtbar
Detektoren messen, welche Teilchen dabei entstehen. Diese Technologie macht sich auch die Medizin zunutze. Bei einem PET-Scan werden wie in CERN-Detektoren Photonen gemessen, die Zellen oder Gewebe sichtbar machen, die viel Energie verbrauchen, darunter entzündetes oder Tumorgewebe. Er unterscheidet sich von anderen bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT), die Gewebe, Organe und Knochen abbilden. Beim PET-Scan (PET steht für Positronen-Emissions-Tomographie) wird sehr wenig und praktisch unschädliches Kontrastmittel eingesetzt.
Neben Diagnosen sind auch Behandlungen aus CERN-Erfindungen hervorgegangen: Etwa am Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) oder am MedAustron in Wiener Neustadt werden Tumore bei Krebskranken seit 2009 zum Beispiel mit Schwerionen und Protonen bestrahlt, die tief im Körper liegende Tumore zerstören können und dabei umliegendes gesundes Gewebe schonen sollen. Das ist bei Tumoren an heiklen Stellen wie der Schädelbasis oder dem Sehnerv besonders wichtig.
Den Teilchenbeschleuniger LHC in Gang zu setzen, braucht viel Energie. Um möglichst wenig beim Transport zu verlieren, hat das CERN Supraleiter aus Metalllegierungen mitentwickelt, die bei Temperaturen von minus 270 Grad keinen Widerstand haben. Die Ingenieure arbeiten daran, dies möglichst auch ohne so tiefe Kühlung hinzubekommen.
Supraleiter für die Nutzung von Brennstoffzellen im Alltag
Für den Flugzeughersteller Airbus ist das interessant. Airbus arbeitet an einem Brennstoffzellen-Antrieb, der aus flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff Energie generiert. Mit Supraleitern könnte die Energie verlustfrei zu den Triebwerken gebracht werden. In Zukunft könnten Supraleiter, die nicht so tiefe Kühlung brauchen, auch bei der Nutzung von Brennstoffzellen im Alltag dienen, so CERN-Physiker Sascha Schmeling.
Um die riesige LHC-Maschine präzise zu steuern und die vielen Daten zu verarbeiten, sind sehr spezielle Programme nötig. CERN-Entwicklungen macht sich zum Beispiel die deutsche Börse zunutze, um beim elektronischen Handel prüfen zu können, in welcher Nanosekunde wer welche Transaktion vorgenommen hat. Das Projekt trägt den Namen "White Rabbit" (Weißes Kaninchen).
Quantentechnologie ist ein anderes Feld, mit dem das CERN sich beschäftigt, etwa zum Bau supersensibler Sensoren. Das deutsche Fraunhofer-Institut schreibt: "Quantentechnologien ermöglichen völlig neue, noch nie dagewesene Anwendungen in der Messtechnik, Bildgebung, Kommunikationssicherheit und bei hochkomplexen Berechnungen." Um diese und andere Anwendungen transparent und mit anderen zu entwickeln, hat das CERN die Führung in einer Zusammenarbeit namens Quantentechnologie-Initiative übernommen.
Mit CERN-Technologie können Gemälde analysiert werden, ohne die Werke zu beschädigen. So können mithilfe spektroskopischer Röntgenbilder tiefer liegende Farbschichten oder die Zusammensetzung der Farben erkannt werden, was Rückschlüsse auf Epochen und einzelne Maler erlaubt. So konnte das tschechische Unternehmen InsightART 2020 ein Gemälde aus einer Privatsammlung dem Renaissance-Maler Raffael zuordnen.
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