Forscherin berechnete, warum es Physikerinnen schwerer haben
Warum der Frauenanteil in Fachpublikationen in der Physik seit mehr als 100 Jahren nicht und nicht signifikant ansteigt, haben die Physikerin und Komplexitätsforscherin Fariba Karimi und ihr Kollege Jun Sun mathematisch analysiert. Das Ergebnis: Männer nehmen in diesem Forschungsbereich Frauen offenbar seltener unter ihre Fittiche und verwehren ihnen damit Zugang zu wichtigen Netzwerken, wie die Wissenschafter im Fachblatt "Communications Physics" berichten.
Bereits im Jahr 2022 hat die am Complexity Science Hub (CSH) in Wien und an der Technischen Universität (TU) Graz tätige Karimi im gleichen Fachjournal bei einem Vergleich von inhaltlich sehr ähnlichen Physik-Publikationen Hinweise auf strukturelle Bevorzugung männlicher Hauptautoren gefunden. Bei der Betrachtung von Paaren gleichwertiger Arbeiten von Frauen und Männern wurde klar, dass ein Mann im Durchschnitt häufiger zitiert wird. Die jahrzehntelange dominante Stellung von Männern in der Physik war damals allerdings nicht der Fokus der Studie.
Dem näherte man sich nun anhand von Publikations- und Autorendaten aus über 100 Jahren Physikgeschichte an: Die American Physical Society (APS) verfügt nämlich über Informationen zu über 668.000 wissenschaftlichen Arbeiten aus den Jahren 1893 bis 2020. Darin enthalten sind auch Daten über insgesamt rund 8,5 Millionen Zitierungen.
Hartnäckiger Geschlechterunterschied
Gerade im Bereich der Physik gab und gibt es im Verlauf der Jahrzehnte große Unterschiede, was die Anzahl der Beiträge von Frauen und Männern betrifft: "Wir sehen einen sehr hartnäckigen Geschlechterunterschied über die Zeit hinweg", wird Karimi in einer Aussendung des CSH zitiert. Mit der Zeit veränderte sich das Geschlechterverhältnis zwar ein Stück weit, es gibt jedoch ein großes "Aber": Er sei im Rahmen der Analyse "fasziniert" gewesen, "dass es immer mehr Physikerinnen und immer mehr von Frauen geleitete Arbeiten in diesem Bereich gab - was gut ist, denn vorher gab es wirklich große Unterschiede. Andererseits wurde die Lücke in absoluten Zahlen immer größer", so der am Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften im deutschen Mannheim tätige Sun.
In harten Zahlen ausgedrückt: Mit Stand Jahr 2000 "identifizierten wir 74.533 männliche Autoren und 7.786 weibliche Autorinnen", erklärten Karimi und Sun gegenüber der APA. Das entsprach einem Verhältnis von 9,5 zu 1. Bis zum Jahr 2020 schossen die Zahlen auf 248.897 männliche Autoren und 42.778 Physikerinnen hinauf. Das Verhältnis verbesserte sich also auf in etwa 5,8 zu 1. In Absolut-Zahlen wuchs der Unterschied jedoch in dieser Zeit um mehr als das Doppelte an, wie die beiden Studienautoren vorrechneten.
"Gleich und Gleich gesellt sich gerne"
Mit Hilfe eines Modells, das diese Entwicklungen mathematisch widerspiegelt, ging man auf Ursachensuche. Dabei konzentrierte man sich vor allem auf Fragen dazu, wie Netzwerke, die Physik-Publikationen zugrunde liegen, entstehen. "In einem System wie der Wissenschaft ist es sehr wichtig, wer sich einem Neuling annimmt und ihn in sein Netzwerk aufnimmt. In unserem neuen Modell wollten wir diesen Adoptionsprozess berücksichtigen", so Karimi. Die Wissenschafter bauten also das Prinzip "Gleich und Gleich gesellt sich gerne" - ein Mechanismus, der in der Wissenschaft "Homophilie" genannt wird - in ihr Modell ein. Dazu kamen Überlegungen, dass etablierte und bekannte Persönlichkeiten in der Physik - zumeist Männer - mehr Verbindungen zu anderen ausbilden als weniger bekannte.
Siehe da: Das so gebaute Modell stimmte mit den APS-Daten sehr gut überein. Laut Karimi zeigt dies auch, "dass die Lücke bestehen bleibt, wenn wir weiterhin auf diese Weise zusammenarbeiten und andere Physiker zitieren". Umgekehrt gehe es nicht darum, einfach mehr Frauen in das System zu holen, sondern sie in die einschlägigen Netzwerke hineinzulassen, indem man sie in Mentoringprogrammen unter die Fittiche nimmt, in den Institutionen in höhere Positionen aufsteigen lässt oder ihnen mehr Fördermittel zukommen lässt, betonen die Forscher. Ansetzen müsse man aber eigentlich bei geschlechterspezifischen Rollenbildern schon in frühester Kindheit. Die Physik sei nämlich alles andere als ein Einzelfall: Studien würden zeigen, dass das Problem in vielen wirtschaftlichen und akademischen Bereichen virulent ist - wobei es in den Sozial- und Geisteswissenschaften vielfach größer ist als in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften.
Service: https://doi.org/10.1038/s42005-024-01799-z