Multiperspektivische Zugänge zu komplexen Fragestellungen
"Muster des Scheiterns und der Regeneration" war Titel und roter Faden der am 30. September 2021 veranstalteten Online-Veranstaltung "Research Summit" der Universität für Weiterbildung Krems. Manfred Laubichler, Carlos Álvarez Pereira, Eva Schernhammer, Stefan Thurner und Jonathan Tirone beleuchteten mit Gerald Steiner aus ihren jeweiligen disziplinären Sichtweisen Fragestellungen, wie Systemänderungen bei hoher Komplexität möglich sind.
Die aktuellen Herausforderungen der Welt, wie unter anderem COVID-19, der Klimawandel, Biodiversitätsschwund oder Nachhaltigkeit, verbindet eine Gemeinsamkeit: Ihnen allen liegen keine monokausalen Mechanismen zugrunde, sie zeichnen sich durch starke Interdependenzen und hohe Komplexität aus. So überrascht es auch nicht, dass die Physiknobelpreisträger 2021 sich mit komplexen Systemen befassen.
In ihrer Begrüßung zur Research Summit Series #4 spannte Univ.-Prof. Dr. Viktoria Weber, Vizerektorin für Forschung und nachhaltige Entwicklung der Universität für Weiterbildung Krems, einen Bogen zur ersten Ausgabe dieser Reihe. Auch diese wurde von der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung veranstaltet und widmete sich der Frage, wie Komplexität verstanden werden könne. Gemeinsam mit der kurz vor dem Summit stattgefundenen 1st Global Transdisciplinary Conference vertiefte der Research Summit die Auseinandersetzung mit komplexen Systemen.
Wie komplexe Systeme auf Störungen reagieren
Mit seinem Vortrag führte Univ.-Prof. Dr. Manfred Laubichler, Santa Fe Institute (SFI) & Arizona State University (ASU), zum Thema komplexe Systeme hin und bot in seinen Überlegungen einen Abriss wichtiger theoretischer Grundlagen.
Laubichler umriss mit seinen Arbeitshypothesen auch gleich das Grundproblem komplexer Systeme: "Alle komplexen Systeme erreichen unweigerlich einen Punkt, an dem sie scheitern", da sie den Gesetzen der Thermodynamik unterworfen seien und ihre Entropie somit logisch zwingend zunehme. Komplexen Systemen wohnten strukturelle Schwächen inne, sie seien ständigen, durch externe wie interne Faktoren ausgelösten Störungen ausgesetzt.
Durch evolutionäre Prozesse entwickelten sich Regenerative Strategien, die den Fortbestand dieser Systems trotz der ständigen Gefahr eines Kollapses gewährleisten. Diese regenerativen Strategien könnten in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden, je nach Typ des zugrundeliegenden Attraktors. Typ 1: Regeneration in Richtung eines stabilen Attraktorzustands, das System kehrt zu einem vordefinierten Zustand zurück, beispielsweise das Nachwachsen des Schwanzes bei einer Echse oder der Wiederaufbau eines Gebäudes. Typ 2 führt zu einem sich dynamisch bewegenden Attraktorzustand: Eine Systemstörung führt zu einer dynamischen Reihe von Transformationen. Nachdem etwa ein Wald abgebrannt ist, entwickelt sich ein neues Equilibrium in der nachkommenden Tier- und Pflanzenwelt, es wird jedoch nicht wieder exakt der frühere Wald werden.
Im Umgang mit globalen Herausforderungen sei es zu einer Verschiebung gekommen, indem Lösungsansätze nicht mehr auf Erreichen eines statisch definierten Ziels (Typ 1) gerichtet seien sondern auf adaptive Zugänge und dynamische Interventionen (Typ 2).
Umfassendes Wissen für komplexe Fragestellungen
Carlos Álvarez Pereira, MSc ist Mitglied des Executive Committee des Club of Rome, einem internationalen Zusammenschluss von Expert_innen für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit. Er griff Laubichlers Feststellung der Verschiebung hinsichtlich der Beurteilung globaler Herausforderungen auf und betonte ihre Bedeutung. Dabei verwies Pereira, dass anfangs der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität als zwei voneinander unabhängige Phänomene behandelt worden seien, während heute zwischen diesen beiden Entwicklungen starke Wechselwirkungen erkannt würden.
Für ihn sei der Wissenserwerb die Revolution des 21. Jahrhunderts. Man müsse hinterfragen, wie Wissen gewonnen werde. Die traditionellen Institutionen seien seiner Meinung nach primär an Typ-1-Lösungen orientiert, doch würden wir aktuellen vor einer anderen Art von Herausforderungen stehen. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf die Einbeziehung von altem Wissen, wie beispielsweise Tao und Ubuntu, und ging auf experimentelles Lernen ein, wo sich alle als Lernende wahrnehmen würden und Lehrende eine Rolle von Ermöglicher_innen einnähmen. Weiters kritisierte Pereira, dass das aktuelle Wirtschaftssystem Ressourcen in großem Stil aufwende, um den Status quo aufrecht zu erhalten - den Preis müssten künftige Generationen zahlen.
Zieldefinition als Herausforderung
Als Humanmedizinerin vielen Eva Schernhammer, MD, DrPH, MPH, MSc, Harvard Medical School und Leiterin der Abteilung für Epidemiologie an der Medizinischen Universität Wien, bei Laubichlers Ausführungen deutlich die Bezüge zum menschlichen Körper ins Auge: der Tod als Ausfall eines komplexen Systems, Organtransplantationen als Lösungsansatz des Typ 1 oder auch der Alterungsprozess als Typ-2-Vorgang, bei dem sich ebenso ein neues Equilibrium einstelle. Schernhammer ging auf die Herausforderungen rund um COVID-19 ein und stellte dabei fest, dass die Menschen nicht besonders gut darin seien Ziele zu setzen. So änderte die Politik trotz fehlender Evaluation laufend ihre Ziele, von der Eindämmung des Virus hin zum Abstellen auf die Zahl der Todesopfer, die Zahl der belegten Krankenbetten bzw. die Zahl der Menschen, die intensivmedizinische Behandlung benötigen. Hier zog sie eine Parallele zum Klimawandel, bei dem auch nicht geklärt sei, welchen Zustand es letztendlich zu erreichen gelte und für wie lange.
Komplexität durch Netzwerkdenken verstehen
Den komplexen Systemen näherte sich Univ.-Prof. Mag. DDr. Stefan Thurner, Medizinische Universität Wien und Complexity Science Hub Vienna, aus der Perspektive des Netzwerktheoretikers. Er überträgt die Herausforderungen der Zeit in Netzwerke und kann aus diesem Modell Ableitungen zum besseren Verständnis künftiger Entwicklungen vornehmen. So griff er aus der Moderation von Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerald Steiner, Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung, das Zitat von Univ.-Prof. Barry Bloom, Ph.D., Harvard T.H. Chan School of Public Health, auf: "Der wichtigste Bestandteil eines jeden Impfstoffs ist Vertrauen." Übersetzt auf Netzwerke stelle Vertrauen einen Faktor dar, der bestimmte Verbindungen ermögliche. Ohne Vertrauen würden Verbindungen verschwinden, was Auswirkungen auf die Gesellschaft habe. Am Beispiel COVID-19 gelte zu beachten, dass die Gesellschaft als ein Netzwerk eingebettet in andere Netzwerke zu betrachten sei. Um dieser hohen Komplexität beizukommen, seien Daten unerlässlich. Für Thurner gehe es beim COVID-19-Contact-Tracing darum, das Netzwerk zwischenmenschlicher Kontakte zu verstehen, wofür auch Daten erforderlich seien. Aus dieser Sicht stellten Lockdowns eine Maßnahme des Kontakt-Netzwerk-Managements dar.
Während Laubichler von natürlichen, nicht-optimierten Systemen sprach, betonte Thurner mit Verweis auf das Beispiel Finanzsystem, dass durch das Netzwerk hinter dem System selbiges optimiert werden könne.
Vertrauen durch Transparenz
Jonathan Tirone, Bloomberg, überführte den Netzwerk-Gedanken auf die Scientific Community. Mangelndes Vertrauen in die Wissenschaft, wie sich etwa beim Thema COVID-19 zeige, ließe sich durch die andersartige Netzwerkstruktur bei Forschenden und fehlenden Zugang dazu erklären. Es gelte, Offenheit als Stärke zu begreifen, auch um auf diesem Weg Vertrauen zu erlangen, so Tirone. Er griff auch seine Gedanken zum Thema Fernerkundung im Allgemeinen und zum Copernicus-Programm der Europäischen Union im Speziellen wieder auf, über dessen Nutzen er bereits bei der 1st Global Transdisciplinary Conference gesprochen hat. Copernicus sei ein Beispiel für Transparenz, da hier die überwiegende Mehrheit der gewonnenen Daten kostenlos, vollständig und offen zugänglich gemacht werde. Auf Laubichlers Hinweis, dass die Natur Gleichgewichte in ihren Systemen anstrebe, hielt Tirone als Gegenbeispiel die Wirtschaft entgegen, in der Volatilität Menschen reich mache.
Perspektiven auf die richtige Zielsetzung
In der anschließenden Diskussion fand unter anderem Schernhammers Punkt, dass wir schlecht in der Zielsetzung seien, Widerhall. Tirone präzisierte, dass wir Menschen besondere Schwierigkeiten im Umgang mit Risiken geringer Wahrscheinlichkeit hätten. Pereira sprach sich hingegen für "indirekte Ziele" aus, mit denen der Komplexität der Welt besser entsprochen werden könne. Klassische Zielvorgaben entsprängen seiner Meinung nach einem mechanistischen Weltbild. Indirekte Richtlinien würden Raum zur Erkundung und Flexibilität bieten. Als Beispiel brachte er den Tanz, der auch nicht als eine Abfolge abstrakter Einzelbewegungen gelernt werde.
Transatlantische Forschungskooperation
Mit der Gründung des Transatlantic Research Lab on Complex Societal Challenges wurde eine lose Kooperationsplattform zur gemeinsamen Arbeit an vorrangigen Themen wie COVID-19 in eine permanente Einrichtung überführt. Den Kern der ursprünglichen "COVID-19-Gruppe" bildete ein Netzwerk der Universität für Weiterbildung Krems, der Medizinischen Universität Wien, der University of Arizona in Santa Fe, des Santa Fe Institute, des World Climate Forum und der Harvard University. Ziel des Labs ist, die interdisziplinäre und systemwissenschaftliche Herangehensweise an komplexe Herausforderungen anhand konkreter Forschungs- und Publikationsprojekte der Teilnehmer_innen gemeinsam zu erproben, weiterzuentwickeln und einen wissenschaftlichen Beitrag zur Bewältigung zukünftiger globaler Krisen zu leisten.
Weitere Informationen: www.donau-uni.ac.at/researchsummit
Rückfragen Mag. Ilja Steffelbauer Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement Donau-Universität Krems Tel. +43 (0)2732 893-2335 ilja.steffelbauer@donau-uni.ac.at www.donau-uni.ac.at/wuk