ME/CFS - Neues Referenzzentrum soll als "Wissensmultiplikator" wirken
Das an der MedUni Wien im September neu eingerichtete Referenzzentrum für postvirale Syndrome wie Post Covid oder ME/CFS soll als "Wissensmultiplikator" für Ärzte und Ärztinnen sowie Gesundheitsberufe dienen. Es gebe in diesem Bereich Aufholbedarf, betonten die Zentrumsleiterinnen Eva Untersmayr-Elsenhuber und Kathryn Hoffmann im APA-Gespräch. Beratend zur Seite stehen werde das Zentrum bei der anstehenden Schaffung von Betroffenen-Behandlungsstellen in ganz Österreich.
Ziel des Zentrums, das als Wissens-Hub und nicht als Patienten-Behandlungsstelle fungiert, sei es, (inter)nationales Wissen zu Erkrankungen, die nach viralen Infektionen auftreten, zu sammeln, aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. Es gehe um die Aus- und Fortbildung von Ärztinnen und Ärzten bzw. Gesundheitsberufen, aber auch um die Wissensbereitstellung für die Behandlung von Patientinnen und Patienten. Geplant sind Webinare, Schulungen und Symposien bzw. der Ausbau von bereits bestehenden Angeboten, so Hoffmann.
Wissensdefizit soll aufgeholt werden
Untersmayr-Elsenhuber verwies darauf, dass die Thematik erst in den vergangenen Jahren vereinzelt im Medizin-Studium vorkam: "Wir gehen natürlich in dem Bereich von einem Wissensdefizit aus. Das ist jetzt etwas, was man aufholen muss, weil der Bedarf einfach so groß geworden ist", verwies sie auf die durch das Corona-Virus stark gestiegene und weiter steigende Zahl an Betroffenen.
An der schwersten Form ME/CFS sind laut Hochrechnungen internationaler Daten rund 80.000 Personen in Österreich erkrankt. 60 Prozent davon sind zumindest teilweise arbeitsunfähig, 25 Prozent haus- oder bettgebunden, so Hoffmann. Ausgelöst werden postakute Infektionssyndrome aber nicht nur durch SARS-CoV-2-Infektionen (hier auch durch leichte Verläufe), sondern auch durch andere Erkrankungen, etwa Influenza oder eine Epstein-Barr-Virus-Infektion. "Es gibt auch neue Viren, die zu uns kommen, etwa das West-Nil-Fieber", sagte Untersmayr-Elsenhuber. Es sei in diesem Bereich sehr viel Forschung nötig, man benötige auch bessere Daten.
Die Einrichtung ist auf drei Jahre finanziert
Nachdem die Problematik der Langzeitfolgen wie Long- bzw. Post Covid und auch schwere Formen wie ME/CFS im Zuge der Corona-Pandemie immer sichtbarer wurden, kündigte Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) bereits im November des Vorjahres die Schaffung eines Nationalen Referenzzentrums an. Mitte September wurde die Medizinische Universität Wien - nach einem EU-weiten Vergabeverfahren - mit dem Betrieb desselben beauftragt. Die Einrichtung ist auf drei Jahre finanziert. Angesiedelt ist sie am Zentrum für Public Health (Abteilung für Primary Care Medicine) sowie am Zentrum für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie der MedUni Wien.
Als besonders dringlich für die Betroffenen sehen Hoffmann und Untersmayr-Elsenhuber die Einrichtung spezialisierter Anlaufstellen für die Behandlung von Betroffenen. Zuständig sind in Österreich hierfür die Bundesländer, konkrete Pläne liegen bisher noch nicht vor.
Das Referenzzentrum werde bei der Umsetzung dieser Anlaufstellen jedenfalls Beratung der zuständigen Stakeholder bieten - auch um Fehler zu vermeiden, wie sie etwa bei den Long-Covid-Ambulanzen passiert sind, sagte Hoffmann: Diese waren meist an ein einziges medizinisches Fachgebiet gebunden, was so aber nicht funktioniert habe. Denn bei derartigen Erkrankungen sei es nötig, dass mehrere ärztliche Disziplinen und Gesundheitsberufe eng zusammenarbeiten. Auch bedürfe es der entsprechenden Ausbildung der Ärzte, auch hier soll das Referenzzentrum ansetzen.
Zentrum möglichst interdisziplinär
Es sei ein großes Anliegen gewesen, das neue Zentrum möglichst interdisziplinär aufzubauen, betonte auch Untersmayr-Elsenhuber. Es brauche die Expertise von "ganz vielen medizinischen Bereichen", denn es sei "nicht nur der Arzt, der gefragt ist, sondern es ist genauso der Physiotherapeut, es ist genauso die Pflegewissenschaft". Auch wies sie auf die besonderen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten hin. Der Umgang mit diesen sei etwas "völlig Neues", etwa hinsichtlich einer besonderen Reiz-Unverträglichkeit vieler Betroffener (u.a. Licht- und Geräuschempfindlichkeit) oder der Notwendigkeit von Hausbesuchen von schwerer Betroffenen, bei denen die Fahrt zum Arzt oder etwa einer Begutachtungsstelle eine Zustandsverschlechterung auslösen kann.
Die Frage der Wissensbündelung und -vermittlung sei auch alleine deshalb schon bedeutend, da das Thema sehr komplex sei und sich im Moment auch sehr viel in der Forschung weiter entwickle. Dies mache es schwer, den Überblick zu bewahren, so Untersmayr-Elsenhuber.
Immunologin sieht einen Hoffnungsschimmer
Für die Patientinnen und Patienten sieht die Immunologin aufgrund der zahlreichen Forschungstätigkeit einen Hoffnungsschimmer: "Man kann absolut etwas Positives sagen: Es gibt - u.a. auch in Amerika - wirklich groß angelegte Studien, wo viel Geld in die Hand genommen wurde, wo versucht wird, nicht nur symptomatisch, sondern kurativ einzugreifen." Geforscht werde etwa an der Berliner Charité an der Entfernung von Antikörpern aus dem Körper, in den USA gibt es Ansätze, mit antiviralen Mitteln oder mit monoklonalen Antikörpern gegen persistierende Viren vorzugehen. Auch Studien zu vorhandenen Medikamenten, die bereits jetzt schon "off Label" eingesetzt werden, würden derzeit laufen - etwa in Schweden.
Überzeugt ist die Immunologin, dass der Krankheitsmechanismus nicht bei allen Patienten gleich ist. "Die Patienten sind von den Krankheitsmechanismen sehr unterschiedlich. Das heißt, dass ein Therapieschema alleine sicher nicht für alle gleich passend sein wird." Daher werde man vielleicht sogar parallele Ansätze wählen müssen, um wirklich kurativ eingreifen zu können.
Wunsch nach mehr Forschungsförderung
Für Österreich wünschen würden sich die Expertinnen mehr Forschungsförderung. Die Etablierung der Biobank für Proben von ME/CFS-Patienten und -Patientinnen an ihrem Institut wird etwa von der privaten We&Me-Stiftung der Familie Ströck finanziert. Gesammelt werden Blut-, Speichel-, Urin- und Stuhlproben, die Biobank ist international mit anderen Biobanken vernetzt, was für zukünftige Studien den Zugriff auf Proben- und Datenmaterial vergrößert.
Auch gelte es weiterhin, Bewusstsein für das Thema zu schaffen - nicht nur unter Gesundheitsberufen, sondern in der Gesamtbevölkerung. "Es ist immer noch viel Aufklärungsarbeit zu tun", so Untersmayr-Elsenhuber. In den letzten Jahren habe sich aber "unglaublich viel bezüglich Bewusstsein, bezüglich Öffentlichkeitsaufklärung" getan, sagte sie.
In diesem Zusammenhang verwiesen die beiden Expertinnen einmal mehr auf das Thema Prävention, gerade auch angesichts der aktuellen Corona-Welle, die sich laut den Daten des Abwassermonitoring auf hohem Stand befindet (abrufbar unter https://go.apa.at/ZmMLVatu). Diesbezüglich würden die üblichen Empfehlungen weiterhin gelten: "Saubere Luft in Innenräumen, Masken, impfen, krank zu Hause bleiben, ausreichend Schonung", so Hoffmann. Warum dies kein Thema seitens der öffentlichen Gesundheitskommunikation ist, sei "nicht nachvollziehbar", "zumal die Auswirkungen fehlender Prävention durch die steigenden Krankenstandzahlen durch akute und chronische postakute Infektionen immer höher und deutlicher werden" - und auch die Wirtschaft dies bereits "deutlich spürt".
Vorsicht vor erneuten Infektionen
Hoffmann verwies auch darauf, dass gerade für Long-COVID und ME/CFS-Betroffene eine erneute Infektion vermieden werden sollte, weil dies in ca. 80 Prozent zu einer Verschlechterung führe. Das ist im Angesicht der hohen Zahlen Betroffener auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Auch zeige sich immer deutlicher, dass Reinfektionen insgesamt das Risiko für Organschäden im Rahmen von postakuten viralen Syndromen kumulativ erhöhen.
Der vereinzelt auch von Medizinern nach wie vor geäußerten Annahme, postvirale Syndrome wie ME/CFS hätten psychische Ursachen, trat Untersmayr-Elsenhuber einmal mehr entgegen. "Das wird aussterben, wie immer, wenn man die Mechanismen kennt", so Untersmayr-Elsenhuber zu derartigen Ansichten. "Das sollte der Vergangenheit angehören. Wir wissen in der Zwischenzeit recht genau, dass hier biologische Vorgänge im Körper stattfinden". Sie verwies auch darauf, dass es in der Medizinhistorie "eine Vielzahl von Erkrankungen" gab, "die früher auch sehr gern in den Bereich der Psychiatrie geschoben wurden, bis man dann die Mechanismen gekannt hat". Allfällige sekundär auftretende Ängste oder depressive Verstimmungen sowie bestehende psychiatrische Komorbiditäten müssten freilich adäquat behandelt werden, sagte sie.