Klima-Glossar: Die Atlantikströmung
Der Einfluss der Klimakrise auf die Atlantikströmung ist einer von neun "Tipping Points" (Kipp-Punkte, 2008), einem anerkannten Konzept des deutschen Klimaexperten Hans Joachim Schellnhuber. Es geht hier um die Gefahr einer sich verlangsamenden Atlantischen Umwälzströmung und den Folgen für den dazugehörigen Golfstrom und somit auch für das Klima in Europa. Gemeint ist mit den Kipp-Punkten, dass ihr jeweiliges Erreichen die Klimakrise bald zur Klimakatastrophe machen könnte.
Der Golfstrom sorgt als Wärmelieferant bis dato für das gemäßigte Klima in Mittel- und Nordeuropa. Mit seiner Abschwächung und jener der atlantischen Umwälzströmung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) würde das europäische Klima eine Abkühlung erfahren. Besonders die Winter würden um einiges kälter als gegenwärtig ausfallen, insgesamt würde das Klima kontinentaler werden, die Niederschläge geringer ausfallen.
Nicht nur Europa hätte dann jedoch ein Problem, auch weitere negative Effekte auf das globale Klima wären die Folge, ein Anstieg des Meeresspiegels in Nordamerika oder Auswirkungen auf den Monsun. In einem im August 2021 veröffentlichten Bericht des Weltklimarats Intergovernmental Panel on Climate Change (IPPC) hieß es, dass ein AMOC-Kollaps noch im 21. Jahrhundert zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen sei. Verlangsamt habe sich die Umwälzströmung jedoch bereits, und diese Entwicklung werde wohl weiter gehen.
Seit den "Tipping Points" wurden jedenfalls zahlreiche Studien zur Umwälzströmung publiziert, die sich unter anderem auch mit dem Eintritt des befürchteten AMOC-Kollapses beschäftig haben. Ende Juli 2023 sorgten so etwa Klimaforscher Peter Ditlevsen und Mathematikerin Susanne Ditlevsen von der Universität Kopenhagen für eine Kontroverse. Mit ihrer im Fachmagazin "Nature Communications" publizierten Studie setzen sie sich in Widerspruch zum Sachstandsbericht des UNO-Weltklimarats IPCC. Sie setzten den AMOC-Zusammenbruch höchstwahrscheinlich zwischen 2025 und 2095 an.
Große natürliche Schwankungsbreite
Kritik aus der Wissenschaft war eine Folge. Das deutsche Science Media Center (SMC) wies damals grundsätzlich auf den Umstand hin, dass in den vergangenen Dekaden keine offensichtlichen Trends beobachtet worden seien, jedoch eine große natürliche Schwankungsbreite. Klimamodelle, die eine künftige Entwicklung der Golfstromzirkulation genau vorhersagen, seien wegen des komplexen Strömungssystems und zu dünner Datenlage noch nicht möglich. Jochem Marotzke, Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem, Max-Planck-Institut für Meteorologie, äußerte bei der konkreten Studie Zweifel daran, "ob man Messungen der Oberflächentemperatur einfach als AMOC-Stellvertreterdaten benutzen kann".
Im Februar 2024 folgte jedoch eine weitere, im Fachjournal "Science" publizierte Studie, die für einiges mediales Aufsehen sorgte. Deren Autoren unter Hauptautor René van Westen von der Universität Utrecht wagten zwar keine derartige Prognose, gingen jedoch davon aus, dass "die heutige AMOC auf dem Weg zum Kippen ist", wie es im Abstract heißt. "Eine konkrete Zeitspanne für das Erreichen von diesem Kipppunkt gibt die neue Studie nicht an, bestätigt aber die Tatsachen einer letztjährigen Untersuchung, dass das noch bereits eben in diesem Jahrhundert passieren kann, womöglich sogar in den kommenden wenigen Jahrzehnten", lautete der Kommentar von Olefs Marc von Geosphere Austria in einem Beitrag im Ö1-"Morgenjournal" (14. Februar 2024").
Ganz andere Töne schlug indes noch eine 2020 eine im Fachjournal "Science Advances" publizierte Studie an. Demnach habe sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel verändert. "Wir zeigen, dass sich der AMOC-Zustand im vergangenen Jahrzehnt nicht merklich von jenem der 1990er-Jahre im Nordatlantik unterscheidet", verlautbarten die Autoren hier in der Zusammenfassung. "Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Zirkulationsänderungen und Veränderungen der Eigenschaften des Ozeaninneren möglicherweise in sehr unterschiedlichem Tempo ablaufen", erläutert der Mitautor und Ozeanograph Johannes Karstensen vom Kieler Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Keine Zeitangabe, aber eine zur Temperatur gab es 2022 in der in "Science" publizierte Studie "Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points". Sie geht davon aus, dass ein AMOC-Zusammenbruch bei einer Erderwärmung ab vier Grad Celsius eintreten könnte.
Service: "Nature"-Studie, Juli 2023 unter: https://www.nature.com/articles/s41467-023-39810-w, "Science"-Studie, Februar 2023 unter: https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adk1189, "Science Advances", November 2020, https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.abc7836. Auflistung der Kipp-Elmente, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: https://www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/kippelemente