Citizen Social Science: Probleme durch Partizipation lösen
Wenn Laien an "Citizen Science"-Forschungsprojekten mitarbeiten, dann hilft das der Forschung, kann aber auch einen gesellschaftlichen Mehrwert haben. Bei dem Ansatz "Citizen Social Science" werden die Mitwirkenden bewusst ganz eng in einen wissenschaftlichen Prozess eingebunden, der letztlich ihre eigene Lebenswelt verbessern soll. Das kann zu unmittelbar anwendbaren Lösungsansätzen führen und gleichzeitig die Wissenschaftsskepsis in der Gesellschaft verringern helfen, sind Expertinnen des Zentrums für Soziale Innovation (ZSI) überzeugt, die soeben mehrere einschlägige EU-Projekte evaluiert haben.
Die dezidierte Missionsorientiertheit des EU-Forschungsrahmenprogramms "Horizon Europe" spiegelt sich mittlerweile auch in vielen sozialwissenschaftlichen Projekten wider, sagt Katja Mayer vom Bereich Forschungspolitik & Entwicklung am ZSI im Gespräch mit APA-Science: "Man muss viel stärker als früher Lösungen und soziale Innovationen präsentieren." Sie hat soeben gemeinsam mit Kolleg:innen das von der EU-Kommission geförderte und aus unterschiedlichen Pilotprojekten bestehende Projekt "CoAct" (Co-Designing Citizen Social Science for Collective Action) evaluiert und die Resultate und Empfehlungen daraus in einem Policy Brief zusammengefasst, das in Kürze veröffentlicht wird.
Viel Raum erhielt dabei die Frage nach sozialer Wirkung, stehen doch dem Wunsch nach stärkerem Engagement der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen und Themensetzungen politischer Institutionen oft noch fehlende Methoden für effektive Teilhabe entgegen, heißt es darin zur Ausgangslage. Mit "Citizen Social Science" als methodischem Ansatz sollen geeignete Lösungen für ganz unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Probleme gefunden werden. Im Rahmen von CoAct, das "auch ein bisschen auf unserem Mist gewachsen ist", wie Katja Mayer festhält, wurden vier gesellschaftliche Herausforderungen adressiert: Psychische Gesundheit, Jugendbeschäftigung, Umwelt- und Geschlechtergerechtigkeit. "Eines der zentralen Erkenntnisse von CoAct war, dass man mit Communities arbeiten muss", so Mayer, die auch am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Wien tätig ist. Sie spielt damit auf das Potenzial von "Social Knowledge" an – dem oft brachliegenden sozialen Wissen, das sich zum Beispiel die (Regional-)Politik zur Problemlösung zunutze machen kann.
Orientierung im Ausbildungsdschungel
Bei einem der evaluierten Projekte stand die AusBildung bis 18 in Wien im Mittelpunkt, und hier besonders jene Jugendliche, die nicht in das System hineinkommen oder - aus welchen Gründen auch immer – wieder herausfallen. Zum Hintergrund: Seit Sommer 2017 gilt in Österreich die Ausbildungspflicht. Jugendliche müssen also bis zum 18. Geburtstag eine weiterführende Schule besuchen oder eine alternative Ausbildung machen. Aus den vielen Feedbacks innerhalb von "Partizipative Forschung zur AusBildung bis 18" hebt Stefanie Schürz vom ZSI zwei hervor: "Die Ausbildungs- bzw. Maßnahmenlandschaft ist extrem komplex und unübersichtlich für die Leute, die sich darin bewegen. Für die Jugendlichen ist es unglaublich schwer, sich darin zurechtzufinden." Der Bedarf für eine zielgruppenorientierte Kommunikation sei dabei sehr klar herausgekommen, so Schürz. "Auf der Ebene der Koordinationsstellen bis hinauf ins (Sozial-; Anm. )Ministerium hat das sehr viel Widerhall gefunden, dass die Ausbildungslandschaft mit Angeboten, Voraussetzungen und Möglichkeiten klarer abgebildet werden muss", resümiert die Expertin.
Da bei den "AusBildung bis 18"-Maßnahmen oft auch sehr unterschiedliche Jugendliche zusammenkommen, ist es für Ausbildungsstätten naturgemäß eine Herausforderung, allen Bedürfnissen gerecht zu werden. "Manche haben eher Probleme, weil sie sprachlich nicht mitkommen, andere haben psychische Erkrankungen oder sonstige persönliche Einschränkungen die es erschweren, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen oder im Schulsystem mitzukommen", beschreibt Schürz die Sachlage. Ein zentraler Wunsch vieler Jugendlicher war daher, bei Bedarf einen Rückzugsort zur Verfügung zu haben: "Es ist eine kleine Forderung, die aber eine sehr große Wirkung hat."
Hilfe zur Selbsthilfe
In einem weiteren Projekt, das vor kurzem in Barcelona abgeschlossen wurde, ging es laut Katja Mayer darum, zu erforschen, "wie man am besten die Unterstützung für Patientinnen und Patienten aber auch deren Angehörige in dem Feld der psychischen Erkrankungen organisieren kann". Daraus resultierten – etwa mit Hilfe eines eigens entwickelten Chatbots, mit dem sich betroffene Menschen untereinander austauschen konnten - konkrete Handlungsoptionen. Beim dritten Projekt sei es in Argentinien durch das Zusammenspiel von vielen Ebenen an Wissen und Expertise gelungen, konkrete Maßnahmen zu entwerfen, der Umweltverschmutzung im Mantanza-Riachuelo Flussbecken wesentlich besser Einhalt gebieten zu können (Citizen Social Science for Sanitation Policy in Mantanza-Riachuelo Basin).
Diese Beispiele von soeben zu Ende gegangenen Pilotprojekten müssen den Praxistest der Nachhaltigkeit für Region und Betroffene erst bestehen. Sie zeigen für Mayer aber bereits, dass partizipative Sozialforschung dort etwas bewirken kann, wo es ein Problem gibt, aber noch kein tieferes Wissen bzw. Daten dazu vorhanden sind. Im Unterschied etwa zu Bürgerbeteiligungsverfahren sind die beteiligten Personen bereits beim Forschungsdesign dabei, bestimmen Forschungsfragen und -Instrumente mit und sind auch bei der Auswertung und Interpretation der Daten und Ergebnisse eingebunden. "Marginalisierte Gruppen tun sich oft nicht leicht, sich mit ihren Themen Gehör zu verschaffen. Wir haben gesehen, dass Citizen Social Science dazu führt, dem Trend der Vereinzelung in der Gesellschaft entgegenzuwirken."
Von Wellen und Teilchen
Die Mithilfe von Laien ist aber selbst in abstrakteren Bereichen der Grundlagenforschung nichts Ungewöhnliches mehr, wie das Projekt REINFORCE demonstriert. Bei den vier Teilprojekten konnten die Teilnehmer:innen Gravitationswellen detektieren (GWitchHunters), für das Kernforschungszentrum CERN den Bestandteilen der Materie auf den Grund gehen (New Particle Search at CERN), Bio-Signale für ein Unterwasser-Neutrino-Teleskop filtern (Deep Sea Explorers) oder mit Myonentopographie die innere Struktur von massiven Objekten untersuchen (Cosmic Muon Images). Auch dieses Projekt wurde nach Ende der dreijährigen Laufzeit nun vom ZSI evaluiert und bringt eine Reihe von Erkenntnissen mit sich, die über das jeweils unmittelbare Thema hinausgehen.
Insgesamt haben laut Elisabeth Unterfrauner, die das Projekt für das ZSI evaluiert hat, über die Citizen-Science-Plattform Zooniverse 24.378 Personen dabei mitgemacht. Nach dem Studium von Online-Tutorials konnte das beispielsweise im Falle von "Deep Sea Explorers" bedeuten, störende Licht- und akustische Signale auf Monitoren identifizieren zu lernen, damit diese für die Neutrinoforschung herausgefiltert werden konnten.
Abgesehen von der unmittelbaren Forschung war für die Evaluatorin vor allem die oft zu wenig beleuchtete Frage entscheidend, was die Citizen Scientists selbst davon haben, für die Forschung tätig zu werden. Per Fragebogen wurde im Abstand von einem Monat zwei Mal unter anderem erhoben, wie die Einstellung der Teilnehmenden zur Wissenschaft ist, warum sie mitmachen und zudem Wissensfragen gestellt. Mitgeschwungen ist dabei die viel diskutierte Frage, inwieweit Citizen Science auch zur Demokratisierung von Wissenschaft beitragen kann. Denn allzu oft beteiligen sich dem typischen Nerd-Klischee entsprechend am ehesten weiße, männliche, gut gebildete Personen an solchen Projekten. "Das war bei uns zum Großteil nicht der Fall", so Unterfrauner. "Wir hatten sehr altersdiverse Teilnehmer:innen, von Schüler:innen bis zu Pensionist:innen, und auch mit sehr unterschiedlichen Bildungsabschlüssen. Wohl aber hatten wir die typische Gender-Teilhabe. Bei den drei Projekten mit Astropyhsik-Fokus waren mehr Männer dabei, bei Deep Sea Explorers gab es auch eine Biologie-Komponente, und da waren mehr Frauen beteiligt."
Mehr Vertrauen in das eigene Wissen
Die Einstellung zur Wissenschaft war bei den meisten wenig überraschend schon vorher positiv. Gründe zum Mitmachen waren eher intrinsischer Natur, also weniger um Anerkennung von außen zu bekommen, sondern aus Interesse und um etwas zu lernen. Signifikante Unterschiede konnten nach einem Monat bei den Wissensfragen festgestellt werden. "Das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Begrifflichkeiten zu erklären wie 'Was ist ein Neutrino?', hat deutlich zugenommen, ebenso wie das getestete Wissen, das mit Ja/Nein-Fragen überprüft wurde."
Um den Demokratisierungs-Aspekt bei Citizen Science-Projekten zu stärken, empfiehlt Elisabeth Unterfrauner entsprechend, "mehr Diversität bei den Teilnehmenden reinzubringen, sonst hat man immer die üblichen Verdächtigen dabei". Und weil Soziale Innovation immer stärker am gesellschaftlichen Einfluss der Forschungsprojekte gemessen wird, steht für Katja Mayer als Resümee fest, "dass der partizipative Gedanke Vorteile für beide Seiten bringt - und nicht zuletzt, dass Barrieren zur Wissenschaft niedergerissen werden können - das könnte stärker mitgedacht werden in Zukunft."
Diese Meldung ist Teil einer Medienkooperation mit dem ZSI - Zentrum für Soziale Innovation
Service: Policy Briefs und Whitpaper zum CoAct-Projekt: https://coactproject.eu/category/resources/policybriefs_whitepapers