WHO: Omikron-Variante stellt sehr hohes globales Risiko dar
Von der neuen Coronavirus-Variante Omikron geht nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein weltweit insgesamt "sehr hohes" Risiko aus. Die Wahrscheinlichkeit einer weiteren globalen Ausbreitung sei groß, warnte die WHO am Montag in einem Schreiben an ihre 194 Mitgliedstaaten. Es sei mit steigenden Covid-19-Fallzahlen zu rechnen. In einigen Gebieten drohten ernsthafte Folgen.
Auch bei geimpften Personen dürfte es Infektionen und Covid-19-Erkrankungen geben, "wenn auch in einem kleinen und vorhersehbaren Verhältnis". Die WHO rief dazu auf, das Impftempo bei Hoch-Risiko-Gruppen zu beschleunigen und sicherzustellen, dass Pläne zur Eindämmung in Kraft seien, um wesentliche Teile des Gesundheitssystems aufrecht zu halten.
"Omikron hat eine beispiellose Anzahl von Spike-Mutationen, von denen einige wegen ihrer potenziellen Auswirkungen auf den Verlauf der Pandemie besorgniserregend sind", befand die WHO. Um jedoch besser zu verstehen, warum die Variante das Potenzial habe, den Schutz durch Impfungen oder vorangegangene Infektionen zu umgehen, seien weitere Forschungen nötig. Mehr Daten würden in den kommenden Wochen erwartet. Die Variante weise eine große Anzahl Mutationen auf, von denen einige besorgniserregend seien, hieß es. Vorläufige Hinweise deuteten auf ein erhöhtes Risiko einer Reinfektion bei dieser Variante im Vergleich zu anderen besorgniserregenden Varianten, zu denen auch die derzeit vorherrschende Delta-Variante zählt.
Laut WHO wurde B.1.1.529 in Südafrika mittels genetischer Analyse entdeckt, die vom 9. November stammt. Insgesamt ist die Variante bisher weniger als 100 Mal genetisch nachgewiesen worden. Sie weist viele Mutationen auf, die aus Sicht von Wissenschaftern möglicherweise zu einer leichteren Übertragung führen können. Nach Angaben der WHO wird es jedoch noch Wochen dauern, bis klar wird, welche genauen Auswirkungen die Mutationen haben.
Bisher hatte die internationale Gesundheitsbehörde vier "besorgniserregende Varianten" ("variants of concern") identifiziert: Alpha, Beta, Gamma, sowie Delta, die wegen ihrer hohen Übertragbarkeit zur vierten Pandemie-Welle beigetragen hat. Zusätzlich sind zwei "Varianten unter Beobachtung" ("variants of interest") gelistet, die um den vorigen Jahreswechsel in Südamerika aufgetreten waren.
Einreisebeschränkungen aus Afrika
Die Europäische Kommission, Österreich, Deutschland und einige andere Staaten kündigten am Freitag an, Einreisen aus dem südlichen Afrika einschränken oder untersagen zu wollen. WHO-Sprecher Christian Lindmeier empfahl stattdessen im Namen seiner Organisation wissenschaftlich fundierte Maßnahmen und Risikobewertungen. "Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es Vorbehalte gegen Reisebeschränkungen", sagte er. Aus Sicht der WHO sollten Schäden für den internationalen Verkehr vermieden werden. Stattdessen sollte auf die genaue Beobachtung des Infektionsgeschehens und die Genanalyse von auftretenden Corona-Fällen gesetzt werden.
Der südafrikanische Gesundheitsminister Joe Phaahla nannte die Reisebeschränkungen "unberechtigt". Bisher sei es unklar, ob die Variante B.1.1.529 ansteckender sei als andere Varianten. Das Pharmaunternehmen BioNTech prüft indes eine mögliche Anpassung seines mRNA-Impfstoffs. Belgien registrierte einen ersten Fall mit B.1.1.529.
Sorge um Wirksamkeit der Impfstoffe
Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC sorgt sich um mögliche Auswirkungen der Variante Omicron auf den Impfschutz. B.1.1.529 sei die am stärksten abweichende Variante, die bisher während der Pandemie in umfassenden Zahlen entdeckt worden sei, teilte die in Stockholm ansässige Behörde am späten Freitagabend mit. Dies wecke ernsthafte Sorgen, dass sie die Wirksamkeit der Impfstoffe erheblich verringern und das Risiko von Reinfektionen erhöhen könnte.
Laut ECDC verfügt die Omicron genannte Variante B.1.1.529 verglichen mit dem Ursprungsvirus über eine große Anzahl Genmutationen. Es gebe zwar noch größere Unsicherheiten hinsichtlich der Übertragbarkeit, der Wirksamkeit der Impfstoffe und des Wiederansteckungsrisikos. Dennoch hält die Behörde die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Einschleppung und Verbreitung der Variante im Europäischen Wirtschaftsraum für hoch.
BioNTech prüft Impfstoff-Anpassung
Das Pharmaunternehmen BioNTech prüft eine mögliche Anpassung seines mRNA-Impfstoffs. Unterdessen ist die Variante in Europa angekommen. Belgien hat einen ersten Fall mit B.1.1.529 registriert. Das gab der belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke bei einer Pressekonferenz am Freitag bekannt. Es sei Vorsicht erforderlich, aber keine Panik, sagte Vandenbroucke.
"Wir können die Besorgnis von Experten nachvollziehen und haben unverzüglich Untersuchungen zur Variante B.1.1.529 eingeleitet", sagte ein BioNTech-Sprecher am Freitag. "Die Variante unterscheidet sich deutlich von bisher beobachteten Varianten, da sie zusätzliche Mutationen im Spike-Protein hat." In spätestens zwei Wochen seien weiterführende Daten aus den Labortests zu erwarten. "Diese Daten werden uns Aufschluss darüber geben, ob es sich bei B.1.1.529 um eine Escape-Variante handeln könnte, die eine Anpassung unseres Impfstoffs erforderlich macht, wenn sich diese Variante international ausbreitet."
BioNTech hat für einen solchen Fall nach eigenen Angaben schon vor Monaten mit seinem US-Partner Pfizer Vorbereitungen getroffen. Der mRNA-Impfstoff soll dann innerhalb von sechs Wochen angepasst werden. Erste Chargen des angepassten Impfstoffs könnten nach Angaben des Unternehmens innerhalb von 100 Tagen ausgeliefert werden.
Neue Hotline für neue Variante
Bei dem Fall mit der neuen Variante handle es sich um eine ungeimpfte Person, sagte Vandenbroucke. Die Zeitung "Le Soir" berichtete, es sei eine Frau, die aus Ägypten über die Türkei nach Belgien gereist war und sich nicht im südlichen Afrika aufgehalten hatte. Gleichzeitig führte Belgien wieder strengere Regeln für private Feiern, in der Gastwirtschaft und im Nachtleben ein. Clubs müssen schließen und Bars oder Restaurants dürfen nur bis 23.00 Uhr öffnen.
Das südafrikanische Institut für Ansteckende Krankheiten NICD teilte am Donnerstag mit, es seien in Südafrika zunächst 22 Fälle der neuen Variante B.1.1.529 nachgewiesen worden. Mit mehr Fällen sei im Zuge der laufenden Genomanalysen zu rechnen. "Obwohl die Datenlage noch beschränkt ist, machen unsere Experten mit allen Überwachungssystemen Überstunden, um die neue Variante und die damit möglicherweise verbundenen Implikationen zu verstehen."
Sämtlichen Monitoring-Stellen in Österreich sind derzeit keine Fälle der neuen Variante bekannt, berichtete Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Gründe) am Freitag. Auch im Abwasser-Monitoring wurde sie bisher nicht nachgewiesen. Mückstein rief Personen, die in den vergangenen zehn Tagen aus dem südlichen Afrika zurückgekehrt sind, dazu auf, sich bei einer neu eingerichteten Hotline der AGES unter 01/26 75 032 zu melden. Dort erhalten sie Informationen, wohin sie sich wegen eines behördlichen PCR-Tests wenden können, damit sie auf die neu aufgetauchte Variante getestet werden können. "Dies ist eine Vorsichtsmaßnahme, um eine etwaige Einschleppung der neuen Virusvariante so schnell wie möglich zu entdecken und weitere notwendige Schritte setzen zu können". Betroffen sind Rückkehrer aus den Ländern Südafrika, Lesotho, Botswana, Simbabwe, Mosambik, Namibia oder Eswatini.
Mit etwas Sorge, aber ohne Panik blickt der an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York tätige österreichische Forscher Florian Krammer auf die neue Variante. Derart viele Mutationen im Spike-Proteins seien "nicht gut". Es könnte sich hier um eine Variante handeln, die erstmals eine Anpassung von Impfstoffen notwendig mache. Zur Einschätzung brauche es aber noch mehr Daten: "Es ist zu früh, da etwas zu sagen." Noch wisse man zu wenig darüber, ob der derart gestaltete Abkömmling des SARS-CoV-2-Erregers ähnlich infektiös oder sogar infektiöser ist, als die aktuell dominante Delta-Variante, so Krammer zur APA. Allerdings sehe es danach aus, als hätte sie das Zeug dazu, einer aufgebauten Immunabwehr besser zu entkommen.
Bald auch in Österreich erwartet
Norbert Nowotny erwartet, dass die neue Corona-Variante Omikron "in ein, zwei Wochen, etwa in der Range" auch in Österreich ankommen wird. Grund dafür sei, dass das veränderte Virus sich schon einige Zeit in Südafrika ausgebreitet hat und möglicherweise durch Touristen nach Europa gebracht wurde, ein Fall in Belgien ist ja bereits nachgewiesen, so der Experte am Freitag in der "ZIB Nacht".
Auch dem Virologen Andreas Bergthaler bereitet die neue Variante Sorgen. Man habe es hier mit einem neuen Virus-Genom "mit einer Reihe von Mutationen, die man vorher in dieser Kombination nicht gesehen hatte" zu tun, sagte er am Freitag gegenüber der "Wiener Zeitung". Ob die Variante den Impfschutz durchbrechen kann, sei noch unklar: Dazu brauche es "starke epidemiologische Daten und Resultate aus dem Labor. In der Petrischale wurde bisher gezeigt, dass an einigen Mutationen die Antikörper schlechter binden, weswegen diese Variante den Immunschutz unterlaufen könnte".
B.1.1.529 sei aber kein Argument gegen eine Impfung. "Grundsätzlich ist diese neue Variante umso mehr ein Grund, sich jetzt die Auffrischungsimpfung oder endlich die Erstimpfung zu holen", so der Wissenschafter, der am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) die Entwicklung des SARS-CoV-2-Erregers verfolgt. Ob sich die neue Variante tatsächlich breiter durchsetzen wird, hänge von vielen noch schwer einzuschätzenden Faktoren ab.
Auch für den Berliner Virologen Christian Drosten sind noch viele Fragen offen. So sei unklar, ob die Variante tatsächlich ansteckender ist oder ob ein anderer Faktor Grund für die momentan beobachtete Ausbreitung ist. "Für eine veränderte Krankheitsschwere gibt es derzeit keine Hinweise", sagte Drosten.
Die Genom-Veränderungen bei dem Erreger wiesen darauf hin, dass die Virusvariante sich der Immunabwehr entziehen könnte. "Veränderungen im Genom sind aber allein nicht ausreichend, um von einer besorgniserregenden Situation zu sprechen", erklärte der Virologe von der Berliner Charité. Zusätzlich müsse klar sein, dass das Virus sich schneller verbreite oder andere veränderte Eigenschaften habe, beispielsweise einen schwereren Krankheitsverlauf. Die Bewertung der Variante sei noch nicht abgeschlossen. In Südafrika habe es im dortigen Winter eine große Welle der Delta-Variante gegeben, so Drosten weiter. Es sei wahrscheinlich, dass das Ende der Verbreitungswelle durch Bevölkerungsimmunität verursacht wurde.