Das weibliche Becken ist ein evolutionärer Kompromiss
Die Geburt eines Menschen ist wegen der Kopfgröße des Fötus vergleichsweise schwierig. Aus evolutionärer Sicht stellt sich daher die Frage nach Vorteilen eines engen Geburtskanals, wenn er für Mutter und Kind eine potenzielle Gefahr darstellt. Wiener Forscher veröffentlichten nun im Fachjournal "PNAS" eine neue Erklärung dafür: Ein größerer Beckenkanal vermindert die Fähigkeit des Beckenbodens, den Fötus und die inneren Organe zu tragen und erhöht die Gefahr für Inkontinenz.
Vergleicht man Größe und Gewicht von Neugeborenen bei Menschen und anderen Primaten zeigen sich deutliche Unterschiede. Vor allem der Kopf des menschlichen Fötus ist im Verhältnis zur Größe des Geburtskanals groß, entsprechend schwer gestaltet sich die Geburt - selbst nach Hunderttausenden Jahren natürlicher Selektion. Lange Zeit wurde vermutet, dass ein schmales Becken vorteilhaft für die Fortbewegung auf zwei Beinen ist und der Evolution in Richtung einer Verbreiterung des Beckens entgegenwirkt.
Weniger bekannt ist die Erklärung, wonach ein kleinerer Beckenkanal die Funktionalität des Beckenbodens verbessert. Der aus mehreren Schichten Muskeln, Bändern und Bindegewebe bestehende menschliche Beckenboden spielt demnach eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der inneren Organe und beim Halten eines schweren Fötus während der Schwangerschaft. Zudem hilft ein starker Beckenboden dabei, Harn und Stuhl zurückzuhalten. Das Problem war bisher der Beweis dieser "Beckenboden-Hypothese".
Biomechanisches Verfahren entwickelt
Eine Forschungsgruppe der Universität Wien, des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien, des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung in Klosterneuburg (NÖ) und der Universität Texas in Austin (USA) um Ekaterina Stansfield und Nicole Grunstra hat nun ein biomechanisches Verfahren verwendet, um diese Hypothese zu testen.". Sie nutzten dazu ein sogenanntes Finite-Elemente-Modell, wie es bei der Untersuchung von Festigkeit und Verformung von Festkörpern mit komplexer Form eingesetzt wird, etwa zur Simulation des Verhaltens einer Autokarosserie bei einem Zusammenstoß.
Damit simulierten die Forscher menschliche Beckenböden mit unterschiedlichen Größen und Dicken und wie sich diese unter Druck verformten. Dies ermöglichte es, "den Effekt der Geometrie des Beckenbodens zu untersuchen, unabhängig von anderen Faktoren wie Alter, Anzahl der Geburten und Gewebeschwäche", erklärte Stansfield in einer Aussendung. Zudem konnten damit auch Beckenbodengrößen modelliert werden, die derzeit in der menschlichen Bevölkerung gar nicht beobachtet werden.
Der Hypothese entsprechend verformten sich größere Beckenböden in dem Modell tatsächlich überproportional mehr als kleinere Beckenböden. Demnach sind kleinere Beckenböden - und damit kleinere Geburtskanäle - trotz ihrer Nachteile für die Geburt biomechanisch vorteilhaft. Die Wissenschafter sehen darin "starke Hinweise für die Existenz eines funktionellen Kompromisses im menschlichen Becken". Ein größeres Becken würde zwar die Geburt erleichtern, aber gleichzeitig das Risiko von Beckenbodenproblemen erhöhen und die mechanische Unterstützung des Fötus während der Schwangerschaft verringern.
Wie wirkt sich ein dickerer Beckenboden aus?
Die Wissenschafter haben zudem analysiert, ob nicht auch ein dickerer Beckenboden Vorteile gebracht hätte. Tatsächlich würde ein stärkerer Beckenboden Organe und Fötus besser unterstützen. Doch ein dickerer Beckenboden würde auch einen höheren intra-abdominalen Druck erfordern, um die für die Geburt notwendige Dehnung zu ermöglichen", erklärte Grunstra. Und dieser Druck sei wahrscheinlich nicht ohne weiteres steigerbar. Somit würde ein dickerer, widerstandsfähiger Beckenboden eine Geburt ebenfalls erschweren.
Aus diesem Grund gehen die Forscher davon aus, dass "sowohl die Größe des Geburtskanals als auch die Dicke des Beckenbodens evolutionäre Kompromisse sind, die durch mehrere entgegengesetzten Selektionsdrücke entstanden sind", so Ko-Autor Philipp Mitteröcker von der Uni Wien und dem KLI.
Service: Internet: https://doi.org/10.1073/pnas.2022159118