Wiener Forscher nehmen Moleküleigenschaften mittels KI unter die Lupe
Mit der "Vielelektronen-Schrödingergleichung" lässt sich ganz exakt beschreiben, was in Molekülen vor sich geht. Das Problem ist nur, dass die Lösung schon für sehr kleine Moleküle mit wenigen Elektronen einen ungeheuren Rechenaufwand verlangt. Wiener Forscher zeigen nun im Fachblatt "Nature Computational Science", wie sich dieser Aufwand deutlich eingrenzen lässt. Sie packen dazu die Schrödingergleichung in ein neuronales Netzwerk, was das Prozedere deutlich beschleunigt.
Die Gleichung selbst stammt vom österreichischen Physiker Erwin Schrödinger (1887-1961). Mit ihr können Abläufe auf atomarer Skala exakt abgebildet werden. Zu einer Lösung zu gelangen ist allerdings nicht einfach, denn der Rechenaufwand steigt mit jedem weiteren Teilchen, das es mitzuberücksichtigen gilt, explosionsartig an. Das ist auch der Grund, warum sehr leistungsstarke Supercomputer schon bei verhältnismäßig kleinen chemischen Verbindungen extrem lange rechnen müssen.
Aus diesem Grund arbeiten Wissenschafter mit Näherungsverfahren, wie der sogenannten Dichtefunktionaltheorie (DFT). Sie wurde vom 2016 verstorbenen, aus Österreich vertriebenen US-Physiker Walter Kohn entwickelt, der dafür 1998 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Will man die Eigenschaften eines Moleküls aber genauer verstehen, komme man um die Schrödingergleichung nicht herum, erklärte der Mathematiker Philipp Grohs von der Universität Wien im Gespräch mit der APA. Wichtig sei dies vor allem im Bereich der Medikamente- und Halbleiterentwicklung oder für hochspezialisierte Messverfahren.
Stark reduzierter Aufwand
Zusammen mit dem Chemiker Philipp Marquetand und Kollegen spannte Grohs nun ein System Künstlicher Intelligenz (KI) zur Lösung ein. Die Grundlage von KI bilden dem menschlichen Nervensystem nachempfundene neuronale Netzwerke. Diese "lernen" in der Regel anhand von Daten, bestimmte gewünschte Ergebnisse zu liefern, in dem sich die Verbindungen im Netzwerk an die Aufgabenstellung - wie etwa das automatische Erkennen eines Bildes - anpassen.
Die Wiener Wissenschafter wählten nun aber eine etwas andere Herangehensweise, um alle Eigenschaften der Verbindungen exakt aufzuklären. Sie nahmen ein neuronales Netz her, in das sie einen besonderen Algorithmus einbauten. "Wir geben dem Algorithmus nicht Daten zum Lernen, sondern die Schrödingergleichung - also das Modell", erklärte Grohs. Am Ende kommt dann die gesuchte Wellenfunktion des Moleküls heraus. "Diese wird vom neuronalen Netz automatisch gelernt."
Der Clou ist nun, dass sich gezeigt hat, dass man die richtige Lösung zum Großteil auf andere Moleküle übertragen kann. Man könne tatsächlich 95 Prozent des Netzes gleich lassen. Spezifisch auf das jeweilige Molekül anpassen muss man nur noch die restlichen ungefähr fünf Prozent der Verbindungen im neuronalen Netz. Das reduziert den Aufwand nochmals stark.
"Enormes Potenzial" bei fächerübergreifender Zusammenarbeit
"Die Moleküle, die wir jetzt berechnen können, haben eine Größenordnung von 40 bis 50 Elektronen", sagte Grohs: "Das ist für so eine exakte Berechnungsmethode schon relativ groß." Bei diesen Molekülgrößen sei man mit dem neuen Ansatz schon weit exakter und rascher als mit bisherigen Berechnungsmethoden in der rechnergestützten Quantenchemie. In Zukunft könnten dann andere neuronale Netze mit den so gewonnen Daten zu den kleinen Molekülen gefüttert werden, und auf diesem Weg in der Folge vielleicht die Eigenschaften deutlich größerer Verbindungen berechnen. Der neue Ansatz wurde kürzlich auch in einem Perspektivenartikel von Huan Tran vom Georgia Institute of Technology (USA) behandelt.
Der Vorteil von dieser neuen Art der KI-Nutzung sei, dass es im Gegensatz zu Anforderungen an solche Systeme, wie etwa beim Wahrnehmen der komplexen Umgebung beim autonomen Fahren, in den Naturwissenschaften exakte Modelle gibt. Diese Kombination "ist etwas, was in der Zukunft enormes Potenzial bietet", so Grohs. Das könne aber nur gehoben werden, wenn über die Fächergrenzen hinweg zusammengearbeitet wird, wie im Rahmen des Wiener Forschungsnetzwerkes "Data Science".
Service: Die Wiener Publikation online: https://dx.doi.org/10.1038/s43588-022-00228-x; Der Perspektivenartikel: https://doi.org/10.1038/s43588-022-00237-w