"Mit 20 zum alten Eisen, mit 40 schon vorbei?"
Statistisch gesehen wäre es für viele von uns wohl schon vorbei - lebte man als etwa 40-Jähriger im römischen Ephesos des 3. Jahrhunderts nach Christus. 37 Jahre betrug die durchschnittliche Lebenserwartung der erwachsenen männlichen Bevölkerung, wie paläodemografische Untersuchungen des Österreichischen Archäologischen Instituts in den Nekropolen von Ephesos, der Hauptstadt der römischen Provinz Asia in den letzten Jahren ergaben. Immerhin, Frauen brachten es im Durchschnitt auf knapp 40 Jahre. Jedoch: Ein solch passables Alter konnte nur dank eines statistischen Tricks erreicht werden. Denn die Hälfte der Kinder und Jugendlichen erlebte den 20. Geburtstag nicht, und berücksichtigt man diese Gruppe bei der Berechnung, so lag die durchschnittliche Lebenserwartung der gesamten Population bei nicht einmal 19 Jahren! Und dennoch schafften es einige wenige, besonders zähe und glückliche Individuen auf gut 60 Jahre. Das ist ein Detailergebnis einer archäologischen Spurensuche an menschlichen Überresten, wie sie in der modernen Archäologie heute an vielen Orten unternommen wird.
Im Mittelpunkt solcher Untersuchungen stehen zwar die traditionellen Forschungsfragen der Klassischen Archäologie nach dem antiken Menschen und seinem Lebensumfeld, der Rekonstruktion antiken Lebens in all seinen Facetten, aber die Wissenschaft selbst hat sich verändert: Schon lange zielt sie nicht mehr auf den spektakulären Einzelfund oder punktuelle Grabungserfolge ab, sondern die moderne Archäologie will übergreifende Fragestellungen beantworten, was ihr aber nur mit inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit gelingen kann.
Nun gibt es kaum einen Ort, an dem man dem antiken Menschen so nahe kommt wie in seinem Grab. Die letzte Ruhestätte erlaubt einen unmittelbaren Kontakt mit dem antiken Individuum - oder besser - mit dessen Überresten, die wir als archäologischen Befund verstehen. Für einen Forscher, der sich dem Thema ›Tod in der Antike‹ verschrieben hat, ist daher die Kooperation mit der biologischen Anthropologie eine besonders faszinierende Zusammenarbeit. So können heute mithilfe der Paläopathologie, einem Wissenschaftskonglomerat aus Humanmedizin, Anthropologie und Archäologie, individuelle Krankheitsbiografien im Sinne einer ›Patientenakte‹ erstellt werden. Sie ermöglicht es, individuelle Biografien vor Jahrtausenden verstorbener ›Patienten‹ zu rekonstruieren, aber auch allgemeine Aussagen zu einer Population zu tätigen. Dies gelingt, indem man pathologische Veränderungen an archäologischen Knochenfunden untersucht und geht weit darüber hinaus: Häufigkeiten und Ausbreitung verschiedener Krankheitsgruppen lassen sich erkennen und − bei entsprechend großer Probenanzahl - wichtige Einblicke in die Lebensbedingungen vergangener Gesellschaften gewinnen. Die Archäologie dient hier als Schnittstelle, die Ergebnisse von Einzelanalysen in ein breiteres Umfeld bettet.
Ein zentraler Forschungsansatz, der in den letzten Jahren zu einem regelrechten Boom führte, ist die Erweiterung des Methodenspektrums auf biochemische Analysen, konkret Analysen antiker DNA und stabiler Isotopen. Vieles befindet sich hier noch am Anfang, gleichsam auf einer Experimentalebene, doch machen diese neuen Analyseverfahren einen wahren Datenschatz zugänglich, der uns einen Blick auf den antiken Menschen gewährt, wie er zuvor in dieser Art nicht möglich war. Was soll damit erreicht werden? Nun, im Wesentlichen versuchen wir damit, uns zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Themen zu nähern, und zwar der Abstammung und der Ernährung. Zunächst interessieren uns Fragen zu Herkunft und Verwandtschaft − ausgehend von der kleinsten Zelle, der Familie, bis hin zur Definition genetisch verwandter Gruppen innerhalb der Bevölkerung. Dazu werden die mitochondriale und Y-DNA untersucht. Ein vielversprechender Ansatz sind zudem Strontiumisotopenanalysen. Strontium wird mit der Nahrung in unterschiedlichen Isotopenverhältnissen aufgenommen und in Knochen und Zähnen eingelagert. Damit lässt sich im Idealfall der Aufenthaltsort des Menschen während seiner Kindheit und seiner letzten Lebensjahre bestimmen. Zusammengenommen können somit Migrationsbewegungen von Individuen oder ganzen Bevölkerungsgruppen nachgewiesen werden. Die Untersuchung weiterer stabiler Isotopen, und zwar die des Kohlenstoffs und des Stickstoffs, erlaubt, vergangene Essgewohnheiten zu rekonstruieren. In Zusammenarbeit mit Archäozoologen kann der Anteil an mariner und terrestrischer sowie pflanzlicher und tierischer Nahrung bestimmt und somit Kenntnis über Nahrungsangebot und tatsächliche Nahrungsaufnahme antiker Gesellschaften erlangt werden.
Die Auswertung antiker DNA und stabiler Isotopen stellt die Forschung noch vor große Aufgaben. Durch die lange Lagerung der Knochen in der Erde unter oft ungünstigen Bedingungen ist es schwierig, ausreichend analysefähiges Material zu finden. Dazu kommt, dass eine Ausgrabung nicht unter Laborbedingungen stattfindet und das Knochenmaterial bis zur Analyse von vielen Händen berührt und dadurch verunreinigt wird. Dieses eigentlich ungünstige Umfeld zeitigt aber einen positiven Nebeneffekt: So profitiert man heute bei DNA-Analysen des modernen Menschen von verfeinerten Methoden, die in der viel komplexeren antiken DNA-Analyse entwickelt wurden − ein anschauliches Beispiel dafür, welchen wichtigen Beitrag Grundlagenforschung zu leisten vermag und zu welch spannenden neuen Ansätzen man mit ihr gelangt.
Ein Blick auf die Klassische Archäologie jenseits des Elfenbeinturms.