Anthropozän fachübergreifend
Mittlerweile diskutieren nicht mehr nur Geologen und Stratigraphen, wann das Anthropozän zu beginnen hat. Auch Gesellschaftswissenschafter wie zum Beispiel Historiker und Anthropologen beschäftigen sich bereits intensiv mit dem Thema der Periodisierung eines vom Menschen geprägten Zeitalters . Das Anthropozän ist also längst in der Interdisziplinarität angekommen. "Und das ist gut so", erklärt die Umwelthistorikerin und Professorin Verena Winiwarter vom Institut für Soziale Ökologie an der Universität für Bodenkultur (Boku) in Wien, im Gespräch mit APA-Science.
Die Diskussion über das Anthropozän ist für Winiwarter der Moment, wo die natur- und die kulturhistorische Periodisierung zusammenkommen. Dadurch sei ein Ausdruck einer zunehmenden Interdisziplinarität der Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Einfluss auf die Erde auseinandersetzen. Der Begriff Anthropozän ist für die Wissenschafterin ein produktiver Begriff, da er öffentliche Aufmerksamkeit schafft.
Kapitalozän
Analytisch findet ihn Winiwarter jedoch für wenig tragfähig. Es gehe eigentlich nicht um den Menschen an sich, sondern um menschliche Wirtschaftsweise. Es gebe schon den Vorschlag, die Epoche "Kapitalozän" – ein weiterer lautet "Technozän" - zu nennen. Wenn ein Mensch auf dem indischen Subkontinent den ökologischen Fußabdruck von eins habe, habe eine Person in Nordamerika einen von 2,5, verbraucht also die zweieinhalbfachen Naturressourcen. Das sei dann nicht Ausdruck des Menschen selbst, sondern des wirtschaftlichen Umfelds und der ökonomischen Möglichkeiten, meint die Umwelthistorikerin. Der Mensch habe natürlich auch schon in vorkapitalistischen Zeiten einen Impakt auf die Erde gehabt, der aber bei weiten nicht so groß war wie der vom Markt getriebene.
Über die Datierung des Beginns des Anthropozäns lässt sich natürlich streiten, meint Winiwarter. In der Anthropocene Working Group (AWG) of the International Commission on Stratigraphy werden derzeit neun mögliche Startpunkte diskutiert. So gibt es zum Beispiel die zwei großen Revolutionen in der Menschheitsgeschichte - die neolithische und die industrielle -, die man als Anfangsdatum setzen könnte. Ein für zahlreiche Wissenschafter populärer Einstiegszeitpunkt ist "The Great Acceleration" in den 1950er-Jahren. Die "Große Beschleunigung" besagt, dass mit dem steigenden Wohlstand der Ressourcenverbrauch des Menschen massiv zugenommen hat und sich das messbar in der Natur nachweisen lässt. Ein internationales Forscherteam hat dafür zwölf sozio-ökonomische (Bevölkerungswachstum, Wasser-, Energieverbrauch, Düngemitteleinsatz, BIP usw.) mit zwölf naturwissenschaftlichen Parametern (CO2-, Methan-Emissionen, Abholzung usw.) zusammengeführt.
"Trading Zone"
"Die Frage, wann man einen neue Epoche einleitet, ist eine des historischen Zugangs und der Perspektive. Was die Geologen wollen, ist der "Golden Spike", der den Beginn der neue Epoche kennzeichnet", erläutert Winiwarter. Das sei ein grundsätzlich anderer Zugang als ihn zum Beispiel Historiker haben. Im Gegensatz zu historischen Perioden, muss eine geologische Epoche wie das Anthropozän weltweit zum exakt gleichen Moment starten und enden. Der Übergang von der Jungsteinzeit, als die Menschen von Jägern und Sammlern zu Bauern wurden, passierte etwa in Asien, Europa, Amerika und Australien zu gänzlich unterschiedlichen Zeitpunkten, während zum Beispiel das Anthropozän global an einem bestimmten Tag, einer Minute oder sogar Sekunde beginnen würde. Winiwarter sieht diese Gegensätze aber als durchaus fruchtbar. Das ist ein Novum, dass sich natur- und gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen über die Kriterien für Datierungen austauschen müssen. Eine "Trading Zone" nennt das der deutsche Technikhistoriker Helmuth Trischler, Bereichsleiter Forschung des Deutschen Museums. Diese "Verhandlungen" passieren etwa in der bereits erwähnten fachübergreifend zusammengesetzten Anthropozän-Arbeitsgruppe (AWG) – mit österreichischer Beteiligung. Da lerne man das Denken anderer Disziplinen kennen, was befruchtend aber auch mühsam sein könne, da man sich von bekannten, gewohnten Mustern des eigenen "wohlvertrauten" Fachs lösen muss – "nicht immer einfach, denn der Wissenschafter neigt dazu, das eigene Revier zu verteidigen", so Trischler bei einer Veranstaltung in Wien. Da gehe es für Historiker durchaus auch darum, Geschichte radikal anders – losgelöst von der klassischen Linearität – zu denken. Das gilt wohl auch für Geologen, Geografen, Anthropologen und Forscher aus anderen Bereichen., die alte Muster hinter sich lassen müssen.
"Anthropozän ist nicht historisch"
Das Anthropozän kann laut Winiwarter keine historische Epoche sein, da es dabei um den Einfluss des Menschen auf die Natur und die Umwelt geht. Das war und ist in der Geschichtswissenschaft bisher kein Kriterium für Epochendatierungen. Historiker ziehen gesellschaftsinterne Eckpunkte heran, um Zeitabschnitte abzustecken.
Winiwarter kann den meisten der derzeit diskutierten Golden Spikes etwas abgewinnen. Die Intensivierung der Landwirtschaft (siehe Grafik) mache da schon Sinn, meint sie im Gespräch mit APA-Science. Damals habe erstmals in einer multizentrischen Entwicklung die systematische Kolonisierung der Natur eingesetzt.
Winiwarter fragt sich auch, welche Art von Geschichtspolitik man mit den Golden Spikes machen will? Will man beim "Orbis Spike" 1610 auf die Kolonisierung der "neuen Welt" - amerikanischen Kontinents und der Karibik - mit all den folgenden dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen hinweisen? Sie findet das als Historikerin durchaus legitim: "Damit wird das Schicksal der indigenen Völker in die Geschichte hineingeschrieben, trifft damit aber auch eine politische Aussage." Der "landwirtschaftliche" Golden Spike (siehe Grafik) ist dahingehend unverfänglicher und indiskriminierend, da er alle Menschen miteinbezieht. Die Intensivierung der Landwirtschaft (siehe Grafik) als Startpunkt mache schon Sinn, "Darauf könne wir uns schnell einigen." Sie findet aber beide Zeitpunkte als gute Ansatzpunkte. Jedenfalls muss eine langfristige Änderung dokumentiert sein.
Wie gesagt, Winiwarter findet die Auseinandersetzung über das Anthropozän über Fachgrenzen hinaus konstruktiv. Der Datierung mit dem Orbis Spike als Höhepunkt des "Columbian Exchange" und die Diskussionen dazu greifen zum Beispiel etwas auf, was in der Umweltgeschichte schon lange zum klassischen Wissensbestand gehört. "Man könnte sagen, mit der Begriffsprägung Anthropozän ist die Welt dort angekommen, wo die Umweltgeschichte schon längst ist", fasst Winiwarter zusammen.
Dem Menschen entglittene Konsequenzen
Das Anthropozän mache aber auch deswegen Sinn, da der Begriff ein emergentes Phänomen zu fassen versuche. Die Geschichte frage ja - wie auch andere Wissenschaften – nach der Kausalität. "Nimmt man die Anthropozän-Diskussion ernst, stellt man die Frage nach emergenten Phänomen, nach "unschuldigen", ungewollten Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel Konsequenzen nach sich ziehen, die der Mensch nicht mehr im Griff hat", meint die Wissenschafterin. Das Anthropozän sei somit ein "Prägung gegen die menschliche Hybris". Als Beispiel führt sie die Wiederbewaldung des amerikanischen Kontinents nach der Entdeckung der Europäer an. Krankheiten – insbesondere die Pocken - , die in neue Welt eingeführt wurden, haben die indigene Bevölkerung der amerikanischen Kontinente beinahe ausgerottet. Das hatte einen systemischen Effekt zur Folge, indem sich der Waldbestand in Amerika erholte und der CO2-Gehalt in der Atmosphäre messbar änderte. Die invasiven amerikanischen Siedler machten diesen Effekt freilich wieder rasch zunichte.
Ein weiterer zur Diskussion stehender Golden Spike ist 1964, wo die die Radiokarbon-Spitze durch oberirdische Atomwaffentests erreicht wurde. Winiwarter meint, noch in einigen Jahrtausenden werden Archäologen den Zahnschmelz von Menschen die zwischen 1945 und 1964 geboren wurden anhand von C14-Ablagerungen auf diese Periode hin datieren können. Das spreche schon dafür, einen Golden Spike auf 1964 zu setzen. "In diesem Fall hat sich das Anthropozän auch in die Körper der Menschen eingeschrieben", meint de Wissenschafterin. Ebenso haben die nuklearen Versuche in den Testgelände (Bikini, Muroroa usw.) unauslöschbare Spuren hinterlassen. eingeschrieben. Das geht so weit, dass durch die Atombomben in den betroffen Testgebieten neue geologische Materialien entstanden sind – zum Beispiel das glasartige Trinitit im Versuchsgelände von New Mexico (USA). Dass der Mensch durch sein Handeln ungewollt neue Materialien schafft (Emergenz), könnte als Argument für einen Golden Spike 1964 genommen werden.
Winiwarter präferiert aber keinen der Golden Spikes oder anderer Startpunkte, lehnt aber auch keinen strikt ab. Sie sieht die Produktivität des Disputs über die verschiedenen potenziellen Datierungen vielmehr darin, dass über den bisherigen menschlichen Einfluss auf die Erde, die Natur, die Gesellschaften und Ähnliches fachübergreifend konstruktiv diskutiert werden kann.
"Der Frage, wie viel Einfluss hat der Mensch auf die Erde bereits genommen, geht die Umweltgeschichte bereits seit den 70er-Jahren nach, beschäftigt sich also schon seit längerem mit dem Anthropozän. "Der stumme Frühling" von der Biologin Rachel Carson, erschienen 1962, war womöglich da erste Buch, das das Anthropozän thematisierte", erklärt Winiwarter. Bereits 1864 hatte sich der US-Amerikaner George Perkins-Marsh in dem Buch "Man and Nature: Or, Physical Geography as Modified by Human Action" mit den Auswirkungen des menschlichen Tuns auf die Natur am Höhepunkt des ungebremsten industriellen Wachstums beschäftigt. Für Winiwarter war er der erste Prophet eines "nachhaltigeren Umgangs mit der Natur." In der Diskussion fände sie außerdem gut, dass der Mensch in der Natur und nicht als dessen Essenz gesehen wird. Das habe sich im Diskurs der verschiedenen Disziplinen bereits etabliert.
Von Hermann Mörwald / APA-Science