Das Anthropozän in Wien
Das neue Erdzeitalter "Anthropozän" ist freilich ein weltweites Phänomen, man kann es aber auch ganz lokal in Wien festmachen. Seit die Römer hier ihr Lager aufgeschlagen hatten und ihre Militärsiedlung "Vindobona" bauten, legt sich eine menschlich geformte Schicht über die nächste, und wird jeweils größer als ihre Vorgänger. Diese "anthropozänen Wellen" der Stadt kartiert nun der Erdwissenschafter Michael Wagreich vom Department für Geodynamik und Sedimentologie der Universität Wien im WWTF-Projekt "The Anthropocene Surge" (die anthrogene Welle). Damit will er nicht nur die Erdgeschichte der Stadt anhand der verschiedenen Schuttdecken klären, sondern auch harte Daten zur aktuellen Debatte bieten, dass die Einführung dieses Zeitalters des menschengeprägten Planeten Sinn macht.
"Schon vor 150 Jahren hat der Geologe Eduard Suess erkannt, dass der Untergrund Wiens ein bemerkenswerter Ausdruck vom menschlichen Einfluss auf die Natur ist", erklärt Wagreich. Suess war Begründer der Wiener geologischen Schule, "Vater" der ersten Wiener Hochquellwasserleitung und maßgeblich an der großen Donauregulierung beteiligt. Suess prägte den Begriff "Schuttdecke" für jene geologische Schicht, die vor allem von Menschen geschaffen wurde. Die Bewirtschaftung, Bautätigkeiten, die Herstellung verschiedenster Güter und Abfälle hinterlassen Spuren und vermischen sich mit den ursprünglich natürlichen Sedimenten. Wagreich klassifiziert die anthropogen beeinflussten Schichten je nach ihrer Herkunftszeit anhand bestimmter "Techno-Fossilien", zum Beispiel Blei.
"Bleivergiftung"
Schwermetallverunreinigungen durch Blei und Konsorten in Böden könne man quasi als Leitsignale für das Anthropozän heranziehen, meint er. "Metalle sind schon sehr früh abgebaut worden und bereits vor 3.000 Jahren hat es erste Bleiverschmutzungen in der Umwelt gegeben", sagte er gegenüber APA-Science. Mit speziellen Messmethoden könne man es etwa bei archäologischen Ausgrabungen und in Bohrkernen messen. "Wir haben in Wien eine recht intensive Zusammenarbeit mit der Magistratsabteilung 29, die für den Grund- und U-Bahnbau zuständig ist", so der Wissenschafter. Diese Behörde sammelt die Bohrkerne, die etwa für die Sondierung der Trassen und für Fundamente gewonnen wurden, in einem Depot, zu dem Wagreich Zugang erhielt.
Der Geologe will damit zeigen, wie sich die vom Menschen verursachten Ablagerungen unter der Stadt Wien über die Jahrhunderte ausgedehnt haben. "Wir haben bereits gesehen, dass sich die anthropogenen Ablagerungen des Menschen unter Städten wie Wien enorm schnell ausbreiten und anwachsen", sagt er. Im Vergleich zu den gängigen geologischen Zeiträumen, die in der Regel nicht unter tausenden bis zehntausenden Jahren ansetzen, wäre dieser Vorgang fulminant schnell. "Insofern kann man sich diesen Prozess als eine rasante, immer höher werdende, schwallartige Welle vorstellen", erläutert Wagreich.
"Menschliche Welle"
Diese "anthropozäne Welle" habe in Wien mit den ersten Funden und Ablagerungen aus der Steinzeit zögerlich begonnen und beschleunigte sich von der römischen Besiedlung an. Seither hat sie sich vom Zentrum der Stadt in alle Richtungen vorgearbeitet. Davon zeugten zum Beispiel die Bleigehalte im Wiener Sediment. "Schon die Römer verwendeten Blei als gut formbares Material zum Abdichten der Wasserleitungen, viel später ist es als Benzinzusatzstoff in den Untergrund gelangt", erklärt Wagreich. Damit sei das Schwermetall ein guter Anzeiger für die industrielle Revolution und die fortschreitende Motorisierung.
Der Forscher will mit seinen Kollegen die anthropogenen Ablagerungen Wiens zumindest grob in drei Horizonte einteilen: in Ablagerungen aus dem Mittelalter, aus der Zeit bis zum zweiten Weltkrieg und jene der Nachkriegszeit bis heute. Im Zentrum der Stadt, wo sich vom Schutt der alten Römerfestung, jenem moderner Bauwerke bis hin zu Techno-Fossilien abgelagert hat, könnte die Schicht bis zu zehn Meter dick sein, weiter außen, wo die Bastionen der Stadt zur Zeit der Türkenbelagerungen waren, schätzt er drei bis vier Meter anthropogenes Sediment. In Richtung Außenbezirke bis zu den Stadtgrenzen dünnen sich diese Schichten freilich kontinuierlich aus. Die aktuelle Verteilung der anthropogenen Ablagerungen und ihre räumliche Ausbreitung über die Zeit wollen die Forscher in einem dreidimensionalen Modell des Stadtuntergrundes reproduzieren.
Bewährte Tools
Wagreich und Kollegen bedienen sich für ihre Untersuchungen jener Methoden, mit denen man die äonenalten geologischen Zeiträume bisher analysiert und festgelegt hat, also bei Ablagerungen verwendete, an denen der Mensch gänzlich unbeteiligt war. Dies sind zum Beispiel geochemische Analysen und Isotopenverteilungs-Untersuchungen. Damit könne man ebenso Techno-Fossilien kartieren, wie zum Beispiel das Plastik, das die Menschen in die Sedimente gebracht haben.