Walter Pohl: Am Knotenpunkt der Frühmittelalterforschung
Auf die Arbeit des 1953 in Wien geborenen Historikers Walter Pohl haben Auszeichnungen und Förderungen nachhaltig gewirkt, wie er gegenüber APA-Science erklärte. 2004 wurde ihm der "Wittgensteinpreis" zuerkannt, darauf folgte 2010 der mit zwei Mio. Euro dotierte "Advanced Grant" des Europäischen Forschungsrats (ERC). Der Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien und Leiter des Instituts für Mittelalterforschung der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) konnte entscheidend dazu beitragen, dass sich Wien zu einem Zentrum der Frühmittelalterforschung entwickelt hat.
Diese Epoche steht auch im Fokus des ERC-Projekts "SCIRE - Social Cohesion, Identity and Religion in Europe (400-1200)". Der Forscher ist außerdem Sprecher des seit 2011 vom Wissenschaftsfonds FWF jährlich mit etwa 900.000 Euro geförderten Spezialforschungsbereichs "Visions of Community: Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and Buddhism (400-1600)". Seit 2002 ist Pohl österreichischer Vertreter im "Standing Committee for the Humanities der European Science Foundation" (ESF). Gastprofessuren führten ihn nach Russland, in die USA, Ungarn und in die Niederlande.
APA-Science: Was hat sich durch die Auszeichnung(en)/Grant(s) für Sie persönlich verändert bzw. welche(r) davon war am bedeutsamsten?
Walter Pohl: Das hat bei mir sehr nachhaltig gewirkt. Erstens, durch Wittgensteinpreis und den anschließenden ERC-Grant erhielt ich die Möglichkeit, ein größeres Team von Junior Researchers aufzubauen, das auch die Chance hat, sich international zu vernetzen. Zweitens, wachsende internationale Reputation, ausgedrückt zum Beispiel durch einen Ruf an das Institute for Advanced Study in Princeton, den ich schließlich abgelehnt habe, weil ich dann das ERC-Projekt nicht hätte fortsetzen können und das aufgebaute Team die Möglichkeit zur Weiterarbeit verloren hätte. Wien ist ein führender Knotenpunkt der Frühmittelalterforschung geworden, und aus aller Welt kommen interessante Gäste. Drittens, eine gewisse Aufmerksamkeit von Wissenschafts-Journalisten und die verbesserte Möglichkeit, Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit zu bringen. Viertens, und weniger positiv: Die zusätzliche Belastung durch Administration und Betreuung des Nachwuchses - so interessant das ist - macht es schwieriger, noch Zeit für die eigene Forschungsarbeit zu haben. Dazu kommt die rasch anschwellende Flut von Bitten um Gutachten, Empfehlungsbriefe, Teilnahme an allen Arten von Evaluationen und wissenschaftspolitischen Arbeitsgruppen. Das ist nicht uninteressant, Teil unseres Jobs und es wäre unverantwortlich, sich davon fernzuhalten; aber es geht auch auf Kosten der Forschungszeit.
APA-Science: Braucht man in der Wissenschaft heute Auszeichnungen, um voran zu kommen?
Pohl: Sicher helfen sie, aber es geht auch ohne. Das ist auch gut so. Manche Forschungen erfordern vor allem die konzentrierte Arbeit einer Person und brauchen keine großen Grants. Andere wiederum, auch in den Geisteswissenschaften, können davon sehr profitieren.
APA-Science: Welche Preise und Förderungen sind gut, welche weniger, welche müssten erst erfunden werden?
Pohl: Die großen Grants, sowohl auf Senior-Ebene (ERC Advanced Grant, Wittgensteinpreis,...), als auch für Juniors (ERC Starting Grant, START-Preis) bieten hervorragende Möglichkeiten und haben sich sehr bewährt. Daneben müssen unbedingt die Einzelprojekte (z.B. beim FWF) aufrechterhalten werden. Viele andere Programme sind sehr nützlich. Wo Österreich Aufholbedarf hat, ist bei den in den USA und Großbritannien verbreiteten Programmen, wo man sich um zusätzliche Freisemester bewerben kann. Dabei zahlt die Uni weiter das Gehalt, und eine Vertretung in der Lehre wird finanziert. Auch die Doktorandenförderung sollte verbessert werden.
APA-Science: Anton Zeilinger sagte kürzlich sinngemäß, dass man die Mittel für hoch dotierte Preise wie etwa den Wittgensteinpreis genauso gut Jungforschern zur Verfügung stellen könnte. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?
Pohl: Sie gehen ja an Jungforscher – außer ein paar Reisen und Büchern habe ich nichts für mich selbst verwendet.
APA-Science: Wie schätzen Sie den Stellenwert der Öffentlichkeit und von Öffentlichkeitsarbeit für die Wissenschaft und die Person des Wissenschafters selbst ein?
Pohl: Das ist sicher wichtig, aber auch problematisch. Die Erwartung der Öffentlichkeit an Wissenschaft und Wissenschafter unterscheiden sich von den Notwendigkeiten in der Forschung, und diese Kluft wird leider immer größer. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Gerade in den Geisteswissenschaften ist die Herausforderung, die Komplexität der Welt und des menschlichen Denkens und Verhaltens besser zu erfassen. Die Öffentlichkeit will dagegen lieber einfache Antworten und spektakuläre Entdeckungen, und die Journalisten verlangen "Bullet Points", auf wenige Worte verdichtete Botschaften. Hier ist viel Übersetzungsarbeit zu leisten, was auch für die Journalisten eine Herausforderung darstellt.
APA-Science: Was fällt Ihnen sonst noch spontan zu dem Themenkreis ein, was durch diese Fragen nicht abgedeckt wurde?
Pohl: Was ich mir wünschen würde: mehr Verständnis und Interesse für Grundlagenforschung in Österreich. Nach Umfragen sind wir dabei an letzter Stelle unter allen EU-Ländern. Von dieser "Z’wos brauch ma des"-Mentalität müssen wir wegkommen.