Was das Immunsystem und Städte gemeinsam haben
Der Complexity Science Hub (CSH) Vienna verfügt über einen hochkarätigen, zehnköpfigen wissenschaftlichen Beirat. Im Reigen der internationalen Komplexitätsforschung habe Österreich nun die Chance, sich mit ganz spezifischen Themen zu positionieren, sind etwa Peter Sloot von der Nanyang Technological University in Singapur und Gerhard Schmitt von der ETH Zürich im Gespräch mit APA-Science überzeugt.
"In den letzten zehn Jahren hat Österreich eine riesige Anzahl an speziellen Gesundheitsdaten gesammelt. Von all den achteinhalb Millionen Menschen ist jeder Arztbesuch aufgezeichnet. Das ist ein absolut einzigartiger Datensatz in der Welt, den es sonst nirgends gibt", sieht Beirats-Mitglied Peter Sloot eine außergewöhnliche Chance für den CSH, sein wissenschaftliches Profil zu schärfen.
"Wien ist hinsichtlich der Lebensqualität weltweit an der ersten Stelle", sagte wiederum Gerhard Schmitt, Professor für Informationsarchitektur an der ETH Zürich und ebenfalls Mitglied des Beirats. Das eröffne außergewöhnliche Möglichkeiten: "Wenn es einen Ort in der Welt gibt, wo man erforschen kann, wie die besten Städte wirklich funktionieren, dann hier." Entgegen zu dem allgemein oft zu technikgetriebenen Verständnis von "Smart City" sei Wien insofern einen Schritt voraus, indem der Mensch im Mittelpunkt stehe: "Das Ziel von Smart City ist es ja ansonsten, den Menschen von der Gleichung zu eliminieren, und das ist furchtbar dumm."
Wachstum mit kalkulierbaren Begleiteffekten
Was die Komplexitätsforschung für die Stadtentwicklung leisten könne, zeige sich etwa anhand einer Forschungsarbeit des Santa Fe Institute, so Schmitt. Vor einigen Jahren machte ein Team um den Physiker Geoffrey West die überraschende Entdeckung, dass sowohl negative als auch positive sozio-ökonomische Messwerte mit der Stadtbevölkerung auf berechenbare Weise mitwachsen - und zwar in Form einer "superlinearen Funktion". Verdoppelt sich die Bevölkerung in der Stadt, dann steigen demnach Werte wie Durchschnittsgehalt oder Patentanmeldungen ebenso wie Kriminalität um 15 Prozent. Kein Wunder, so Schmitt, dass diese Wachstumschancen und die damit verbundenen erhöhten Steuereinnahmen Stadtplaner oft dazu verleiten würden, immer mehr Menschen in die Städte zu locken.
Anwendungsbeispiele gibt es auch aus aktueller Zeit. Anhand eines Projekts eines Kollegen an der ETH Zürich, Markus Schläpfer, der die Bewegungsmuster von Personen im Senegal anhand ihrer Mobiltelefondaten untersuchte, konnte man - in Abwesenheit von Straßen - etwa die sogenannten "natürlichen Bewegungen" nachzeichnen. "Würde man die Straßen nach diesen natürlichen Bewegungen der Menschen bauen, erhielte man eine viel höhere Effizienz des gesamten Netzwerks", sagte Schmitt. Das Resümee für zukünftige Stadtplanungen könnte also sein: Das alte Rastersystem ist einer guten Stadtorganisation eher abträglich, denn es zieht mehr Energieverbrauch, Verschmutzung, Hitze und Lärm nach sich.
In Singapur - dort hat der Experte das "Singapore ETH Centre" gegründet - wollen Schmitt und sein Team versuchen, innerhalb der nächsten 15 Jahre Temperatur, Lärm und Verschmutzung der gesamten Stadt bzw. der Insel zu senken: "Das geht natürlich nur gemeinsam mit den Menschen in der Stadt und der Politik." Änderungen in solch riesigen, überaus komplexen Systemen könne man natürlich immer nur "anstoßen" und niemals vollständig kontrollieren.
Daten als Rohstoff
Hinter all dem und sonstigen nützlichen Erkenntnissen stehen Daten als Rohstoff. Doch hier sei Vorsicht angezeigt, warnt Peter Sloot. Daten seien für sich genommen "dumm", sie zeigen für sich genommen nur Korrelationen an und keine Kausalität. "Das ist genau der Punkt, an dem die Komplexitätsforschung ins Spiel kommt und dabei hilft, den Daten Sinn zu geben und die dahinter stehenden Mechanismen zu erkennen." Sloot, der sich als Forschungsziel die Entschlüsselung der Mechanismen des menschlichen Immunsystems gesetzt hat, konnte in seiner Forschungsarbeit etwa zeigen, dass die Polizei bei der Bekämpfung krimineller Netzwerke bisher ineffizient vorgegangen ist und diese sogar gestärkt hat.
Anstatt die führenden Köpfe aus einer kriminellen Organisation zu entfernen - die ohnehin schnell wieder nachbesetzt werden - sollte man gezielt an Personen mit ganz spezifischem und daher schwer zu ersetzendem Know-how ansetzen. Eine Organisation, die einen illegalen Cannabis-Handel betreibt, schwäche man mehr, wenn man jemandem aus dem Netzwerk entfernt, der Kenntnisse darüber besitzt, den erhöhten Elektrizitätsverbrauch einer Wohnung zu maskieren als einen Zwischenhändler oder "Boss".
Die Initialzündung, ein kriminelles Netzwerk zu analysieren, stammte übrigens aus Erkenntnissen einer anderen Studie Sloots, in der untersucht wurde, wie sich Aids in der homosexuellen Bevölkerung Amsterdams, San Franciscos und Berlin verbreitet. Gewisse Interaktionsmuster im Netzwerk ähnelten einander auf erstaunliche Weise. Das trifft mathematisch gesehen aber auch auf andere komplexe Systeme zu, sagt Sloot: "Signale in den Netzwerken der Genregulierung funktionieren im Prinzip genau auf die gleiche Weise wie in einem sozialen Netzwerk."
Kollektive Prozesse aus individuellen Prozessen
"Komplexitätsforschung betrachtet, wie kollektive Prozesse aus individuellen Prozessen hervorgehen", erklärte Sloot. "Ein anderes Charakteristikum ist, dass es keine Kontrolle gibt. Wenn man sich ansieht, wie eine Stadt entsteht, dann hat das nicht mit Kontrolle zu tun, sondern ist ein evolutionärer Prozess." Schließlich sei allen komplexen Systemen noch die Selbstorganisation gemein - und die Tatsache, dass sie alle Netzwerke sind.
Komplexitätsforschung drehe sich immer wieder um kritische Übergangsphasen oder sogenannte "Umkipp-Punkte" ("Tipping Point"), also um Szenarien die kurz vor dem sprichwörtlichen Kippen stehen könnten - wie die Erderwärmung durch den Klimawandel oder politische Regimewechsel. Die fundamentale Frage sei also, ob die Forschung in der Lage ist, solche Tipping Points im Voraus zu erkennen, aber auch, dann darauf Einfluss zu nehmen und ein komplexes System zu kontrollieren.
Darauf gebe es freilich noch keine Antwort, aber an der Fähigkeit, Entwicklungen zu prognostizieren, müsse sich letztlich die Komplexitätsforschung messen lassen, so Sloot: "Unsere Theorien sollten in der Lage sein, Dinge einzuschätzen und vorherzusagen. Ohne dem gibt es keine Wissenschaft. Wenn wir nicht vorhersagen können, dann können wir auch nicht verstehen."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science