"Sozioökonomische Systeme besser verstehen und steuern"
Zusammenbruch der Toyota Lieferkette nach dem Fukushima Unfall, Kernschmelze des Finanzsektors, Diffusion falscher Nachrichten in Facebook, Stagnation der internationalen Handels, Massenmigration, Cyberphysikalische Systeme als Bedrohung oder Chance, Physical Internet als neues Logistikparadigma, Disruption durch Digitalisierung, ... aktuelle Phänomene mit hohem Impact, die scheinbar wenig miteinander zu tun haben.
Abstrahiert man allerdings von den Details der jeweiligen Problemstellung, haben diese Phänomene eine gemeinsame Grundstruktur - es handelt sich um große Netze autonom agierender, vernetzter Agenten und Daten, wo lokale Informationen verarbeitet werden und sich an neue Gegebenheiten anpassen. Dadurch kommt es zur Emergenz von Phänomenen auf der Makroebene (z.B. Chaos, Schwingungen, Patterns), die aus dem Verhalten der Mikroebene nicht erkennbar sind.
Früher waren in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weder Daten zum Verhalten auf Mikroebene vorhanden, noch gab es einen Methodenapparat zum Studium derartiger Systeme. Typischerweise wurden daher auf Mikroebene realitätsferne Annahmen wie perfekte Rationalität gemacht, um durch einfache Aggregation testbare Aussagen für die Erklärung der Makrophänomene zu erhalten. Das Ergebnis waren formale Modelle, die in manchen Situationen eine gute Anpassung an die Daten zeigten, aber sich in Ausnahmesituationen oft als unbrauchbar erwiesen.
Agentenbasierte Simulationsmodelle auf Netzwerkdaten bieten hier ein neues Lösungsparadigma an, indem die Aggregation auf Makroebene auch bei komplexer Vernetzungsstruktur möglich ist. Gleichzeitig sind zunehmend Datenbestände auf Mikroebene verfügbar und leistungsfähige Infrastrukturen zur Durchführung derartiger Berechnungen.
Durch die Teilnahme am Complexity Science Hub wollen wir diese neuen Chancen nutzen, um zu einem besseren Verständnis ökonomischer Systeme mit Netzwerkstruktur zu gelangen. Einbringen können wir unser Know-how der klassischen Modelle und Verfahren sowie das Verständnis realer Problemstellungen. Wir erwarten uns einen großen Vorteil durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit, indem die oben aufgezeigten Ähnlichkeiten in den Verfahren und allgemeinen Erkenntnissen über komplexe Systeme genutzt werden können.
Als erste Fragestellungen sollen internationale Handelsnetze und digitale Produktionsnetze studiert werden. Gegenstand des ersten Projekts ist das Studium der Determinanten internationaler Handelsbeziehungen auf Mikroebene, beim zweiten Projekt geht es um optimales Design und Steuerung von vernetzten flexiblen Fertigungssystemen in einem Industrie 4.0 Umfeld.
Als weiteres Beispiel befassen sich Wissenschaftler mit strukturierten Daten, die entweder am Web direkt als Linked Data publiziert werden oder aus dem Web extrahiert werden können. Hier stellen sich sowohl interessante sozio-ökonomische als auch technische Fragen: auf der technischen Seite werden Methoden entwickelt, um die entstehenden komplexen Datenmengen über die Zeit effizient speichern und dynamisch analysieren zu können. Auf einer höheren Ebene beinhaltet die Untersuchung von Web-Daten zum einen die Behandlung der Frage, wie ein erleichterter Zugang zu offenen Daten lokale Communities in einer Smart City verbinden kann und diesen wiederum erlauben kann, sich gewinnbringend auch sozial zu vernetzen, sowie zum anderen die Frage, wie sich in einem so komplexen System wie dem Web die Privatsphäre des Einzelnen schützten lässt.
Alfred Taudes, Professor am Institut für Produktionsmanagement, und Axel Polleres, Professor am Institut für Informationswirtschaft, sind in diesen Forschungsthemen von Seiten der WU Wien aktiv am Complexity Science Hub beteiligt.