"Aus vielen Daten sinnvolle Erkenntnisse gewinnen"
Die Medizinische Universität Wien ist Gründungspartnerin des Complexity Science Hub Vienna, weil wir die hohe Relevanz von "Big Data" in der Medizin schon früh erkannt haben und überzeugt sind, dass das Themenfeld Complexity Science nur mit vereinten Kräften kompetitiv bespielbar ist. Ziel ist es, einen international sichtbaren Forschungsschwerpunkt zu schaffen, der die besten Köpfe aus der ganzen Welt anzieht und damit gleichzeitig die Zusammenarbeit in Österreich verstärkt.
Daten spielen in der medizinischen Forschung und Krankenversorgung schon immer eine zentrale Rolle. Es nimmt aber einerseits die täglich generierte und zur Verfügung stehende Datenmenge rasant zu, so dass tatsächlich von "Big Data" gesprochen werden kann. Andererseits werden die Datenquellen vielfältiger. Als Quellen stehen uns medizinische Befunde, riesige Bilddatenmengen, aber auch öffentliche Daten aus Zeitschriften, Publikationen oder klinischen Studien zur Verfügung. Immer stärker tragen Patienten und Patientinnen auch selbst zur Datengenerierung bei: diverse Gesundheits-, Fitness und Life Style-Apps, den "Quantified Self"- und "Self-tracking"-Trends folgend, sammeln viele Informationen. Auch Citizen Science wird in der Medizin zukünftig eine wichtige Rolle spielen. Ein spannendes Beispiel dafür ist das Pollentagebuch: einzelne Einträge unterstützen die Belastungsprognosen für alle Allergiker. Die Daten an sich sind die Grundlage unserer Forschung, aber erst durch die Vernetzung von Daten kommt Complexity Science ins Spiel. Die Entwicklung neuer Algorithmen, Netzwerktheorien und mathematischer Modelle hat die Analyse von vernetzten Daten ermöglicht. Das Verständnis der Zusammenhänge und Dynamiken in großen Datenmengen ist die Herausforderung, um aus den zur Verfügung stehenden Informationen auch sinnvolles, praktisches Wissen zu generieren.
Prof. Stefan Thurner ist der wissenschaftliche Leiter des Complexity Hub und leitet an der Meduni Wien das Institut für Wissenschaft Komplexer Systeme am Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik und Intelligente Systeme. Er forscht sowohl an den Tools, also an mathematischen Modellen und Netzwerktheorien, als auch in Anwendungsgebieten wie zum Beispiel zu komplexen sozialen Systemen, lebenden Zellen, Genom- oder Gesundheitsdaten.
Ein anschauliches Beispiel ist die kürzlich erschienene Publikation im Journal of Internal Medicine ("Use of statins offsets insulin-related cancer risks." A. Kautzky-Willer, S. Thurner, P. Klimek.). Darin wurden die Zusammenhänge zwischen Typ-2-Diabetes und Krebs untersucht. Einerseits haben Menschen, die an Diabetes mellitus erkrankt sind, grundsätzlich ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken, außerdem stehen einige Diabetes-Medikamente im Verdacht, das Risiko ebenfalls fallweise erhöhen zu können. Stefan Thurner und Peter Klimek vom Institut für Wissenschaft Komplexer Systeme und Kautzky-Willer konnten nun in dieser Studie zeigen, dass man mit gezielten Maßnahmen der Präzisionsmedizin das Risiko ausschalten kann. Und auch, dass eine gleichzeitige Behandlung mit Statinen (die hauptsächlich bei Fettstoffwechselstörungen als Cholesterinsenker eingesetzt werden) sogar mit einem verminderten Krebsrisiko einhergeht. Die Ergebnisse basieren auf der Analyse von Gesundheitsdaten: 1,85 Millionen ÖsterreicherInnen, die zumindest einmal im Spital waren, wurden statistisch erfasst. Rund 300.000 davon hatten Diabetes Typ 2 - diese wurden insgesamt mit rund 300 verschiedenen Kombinationen von Diabetes-Medikamenten behandelt.
Ein anderes Beispiel, auch aus dem Bereich Diabetes, wurde in der Publikation "Improving the informational continuity of care in diabetes mellitus treatment with a nationwide Shared EHR system: Estimates from Austrian claims data" publikziert (International Journal of Medical Informatics 92, 2016, C. Rinner, S. Sauter, G. Endel, G. Heinze, S. Thurner, P. Klimek, G. Duftschmid). Es wurden die Sozialversicherungsdaten von 7,9 Millionen Österreicher analysiert. Mehr als 90 Prozent haben mehr als eine Einrichtung in einem Jahr besucht. Dadurch entsteht eine Diskontinuität im Informationsfluss insbesondere zwischen Krankenhäusern und dem niedergelassenen Bereich, welche die Versorgung der Patientinnen beeinträchtigt.
Für die Medizin spielt Complexity Science in verschiedenen Bereichen eine bedeutende Rolle. Damit können nicht nur komplexe Organismen, das Zusammenspiel von großen Datenmengen, sondern auch die Zusammenhänge im Gesundheitssystem analysiert werden. Die Ergebnisse haben damit eine enorme Relevanz für die medizinische Forschung, die Patientenversorgung und die Player im Gesundheitssystem - von der individuellen, personalisierten Therapieentscheidung bis zu politischen Empfehlungen zum Gesundheitssystem in Österreich.