Migrationsforscherin: "Geht darum, ob wir Diversität akzeptieren"
Temporäre Grenzkontrollen und neue Maßnahmen gegen illegale bzw. irreguläre Zuwanderung haben die Debatten über Migration weiter entfacht. Es geht dabei schnell nur um Bedrohung, kritisiert die Migrationsforscherin Wiebke Sievers. Dabei könnte das Thema auch ganz anders diskutiert werden. Wie eine postmigrantische, Diversität akzeptierende Gesellschaft aussehen könnte, ist ab Mittwoch Thema einer Konferenz in Innsbruck.
"Eine postmigrantische Gesellschaft erkennt Migration als Tatsache an" - sie ist von Zuwanderung und ihren Impulsen geprägt und offen für die Erzählungen von Migrantinnen und Migranten, sagte die Forscherin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zur APA. In der öffentlich-politischen Debatte dominiert oft die Frage, wie viel Zuwanderung eine Gesellschaft vertrage. Aus postmigrantischer Perspektive dagegen lautet die Frage: "Wie gehen wir damit um, dass wir ein Einwanderungsland sind?" Dann gebe es genug Raum für offene Auseinandersetzungen, die nicht nur die Forschung, sondern auch die Perspektiven aller Betroffenen, also auch der Herkunftsländer und der Migranten und Migrantinnen einbeziehen, so Sievers.
Terrorismus und Zuwanderung werden oft vermischt
Auch in einer postmigrantischen Gesellschaft, so die Forscherin, "gelten natürlich Gesetze". Doch die Reaktionen auf die Ereignisse im deutschen Solingen, einem mutmaßlich islamistischen Messerattentat auf einem Stadtfest im August, hätten gezeigt: "Terrorismus und Zuwanderung werden oft vermischt. Wie nach dem 11. September in den USA nimmt man eine Gruppe von Menschen in Sippenhaft für eine Tat, die in diesem Fall ein Einzelner begangen hat."
Verstärkte Grenzkontrollen bedeuteten für einen Teil der Menschen, "dass sie ins Visier genommen werden, weil sie auf Basis rassistischer Kriterien als Teil dieser angeblichen Gruppe wahrgenommen werden" - eine "zutiefst verunsichernde Erfahrung", so Sievers, "selbst wenn die Person dann weiterreisen darf". Zugleich signalisiere die Regierung, dass diese Menschen eine Gefahr darstellen, was steigenden Rassismus zur Folge haben könne. Das nehme die Politik in Kauf, "weil sie glaubt, damit Stimmen, die sie an rechtsextreme Parteien verloren hat, wiedergewinnen zu können". Doch, so die Migrationsexpertin weiter, "Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte zeigen - und Österreich bietet hier ausreichend Anschauungsmaterial -, dass diese Strategie nicht aufgeht." Vielmehr steige in der Bevölkerung das Bedrohungsgefühl, was den rechtsextremen Parteien weiteren Aufwind gebe.
Für Sievers stünden weitaus wichtigere Fragen im Raum in der Migrationsdebatte: "Etwa, wie kann man Bildungskanon und Unterricht den neuen Gegebenheiten anpassen? Oder wie kann man die eigene Geschichte neu erzählen, dass Migration darin Platz findet?"
Das Konzept der "postmigrantischen Gesellschaft"
Das Konzept der "postmigrantischen Gesellschaft" wird schon seit einigen Jahren in der Forschung diskutiert. Ob wir bereits in einer entsprechenden Gesellschaft leben, sei aufgrund verschiedener Definitionen nicht leicht zu beantworten. Manche wie die deutsche Migrationsforscherin Naika Foroutan gehen davon aus, dass eine postmigrantische Gesellschaft erst besteht, wenn es eine offizielle Anerkennung - etwa über neue Staatsbürgerschaftsgesetze - gibt, dass das jeweilige Land ein Einwanderungsland ist. Aber gerade beim Staatsbürgerschaftsrecht sei Österreich bekanntermaßen sehr verschlossen, so die Expertin, Deutschland habe ein neues im Jahr 2000 eingeführt.
Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft könne man schon lange von der Existenz einer postmigrantischen Gesellschaft sprechen, so die Literaturwissenschafterin: "Hier erkämpfen sich Migrantinnen und Migranten in Österreich seit den 1990er Jahren ein Recht auf Teilhabe." In der Kultur sei der Begriff etwa über die Regisseurin Shermin Langhoff etabliert worden, die in Berlin um 2008 das postmigrantische Theater begründete.
"Der Begriff 'postmigrantisch' will daran erinnern, dass liberale demokratische Gesellschaften allen Menschen Gleichberechtigung versprechen, dass dieses Versprechen in Bezug auf Migranten und Migrantinnen aber noch nicht eingelöst ist", meinte Sievers. Mit dem Begriff wende man sich in der Forschung gegen die Vorstellung, dass Integration allein eine Aufgabe der Zugewanderten ist.
Auseinanderklaffen von Forschung und Politik
Gerade in Österreich hat die Expertin oft das Gefühl, dass die Forschungs- und politischen Debatten "so weit auseinanderliegen, dass es sehr schwer ist, die Perspektiven der Wissenschaft in den Diskurs einzubringen". Das liege auch daran, dass sich Migrationsforschung in den vergangenen Jahrzehnten sehr internationalisiert habe, während sich die politischen Argumente immer stärker nationalisiert haben.
Mit der von Sievers und ihrem Kollegen Rainer Bauböck herausgegebenen Publikationsreihe "Migration &" hat man bereits einen Versuch gestartet, auf politische Debatten zu reagieren und sich mit der Frage einzubringen, "wie man auf Migration anders blicken kann, als es bisher in der öffentlichen Auseinandersetzung geschieht". Im Aufbau befindet sich zudem eine "Themenplattform Migration und Diversität". Sie soll Expertinnen und Experten sowie Studien stärker sichtbar machen.
"Deutschland und Österreich eint, dass es Auseinandersetzungen um Migration in einem enormen Ausmaß gibt. Es geht dabei aber stellvertretend darum, ob wir Diversität akzeptieren wollen, auch etwa im Hinblick auf Genderthemen. Migration ist dafür nur zum Label geworden, weil es wunderbar funktioniert, damit zu mobilisieren", sagte Sievers, die mit Kolleginnen und Kollegen in Innsbruck die "8. Jahrestagung der Migrationsforschung" organisiert hat.
Service - 8. Jahrestagung der Migrationsforschung von 18. bis 20. September 2024 in Innsbruck: https://www.oeaw.ac.at/jahrestagung-migrationsforschung2024)