Historiker: Einwanderung und Liberalismus begründeten Wiens Erfolg
"Stadt der Ideen" ist ein Buch, das einen Wiener stolz machen kann. Auf über 400 Seiten blickt der britische Historiker und "Economist"-Journalist Richard Cockett zurück auf die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit "Als Wien die moderne Welt erfand", wie der Untertitel des Buches lautet, das er Ende November in Wien präsentieren wird. Im Interview mit der APA spricht er über die Voraussetzungen dieser kreativen Hochphase - und die Gründe ihres Endes.
APA: Herr Cockett, was bringt einen britischen Historiker und Journalisten, der hauptsächlich in Afrika, Mittelamerika und Südostasien gearbeitet hat, dazu, sich mit Wien zu beschäftigen?
Richard Cockett: In der Einleitung zu "Stadt der Ideen" erkläre ich, wie ich zum ersten Mal auf die Österreichische Schule der Nationalökonomie stieß, als ich an einem früheren Buch "Thinking the Unthinkable" schrieb, und dann tauchten die anderen Wiener immer wieder auf.
APA: Als Wiener bin ich erstaunt und geschmeichelt, wenn ich Ihr Buch lese, aber ich kann mir die Frage nicht verkneifen: Überschätzen Sie unsere Stadt nicht ein wenig?
Cockett: Nun, ich habe meine Haltung in dem Buch dargelegt. Das müssen Sie beurteilen!
APA: Sie beschreiben Wien als einen Schmelztiegel, eine Oase, in der sich Ideen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen ebenso entfalten konnten wie die Künste. Lassen sich daraus allgemeingültige Regeln oder Bedingungen ableiten, die so etwas möglich machen - und welche Stadt käme heute der Bedeutung, die Wien damals hatte, am nächsten?
Cockett: Ich bin Historiker, und zwar einer, der von Karl Popper geschult wurde, keine großartigen Behauptungen über irgendetwas "Allgemeingültiges" aus ein paar historischen Fallstudien abzuleiten. Aber eines würde ich sagen: Einwanderung, Liberalismus und eine hohe Wertschätzung für Bildung (die "Offene Gesellschaft") haben eindeutig dazu beigetragen. Die ersten beiden Dinge sind heute eindeutig aus der Mode gekommen - aber der Erfolg von Wien in der Zeit, auf die ich mich konzentriere, spricht für sie. Heute kommt vielleicht das Silicon Valley der Kreativität Wiens in seiner Goldenen Ära am nächsten.
APA: Und doch führte alles in den späten 1930er und 1940er-Jahren zu Massenmord und Verwüstung. Waren all die kreativen und intellektuellen Energien umsonst?
Cockett: Im dritten Teil des Buches zeige ich, dass all diese kreativen und intellektuellen Energien ins Ausland getragen wurden, mit außerordentlichen Ergebnissen in Ländern wie Amerika und Großbritannien.
APA: Warum war aber all diese positive Kraft nicht vor Ort in der Lage, dem Negativen Einhalt zu gebieten?
Cockett: Die "guten" Wienerinnen und Wiener, nennen wir sie mal so, haben die schlechten bzw. negativen Kräfte einfach nicht gesehen und konnten sich daher nicht vorstellen, worum es sich handelte, geschweige denn sie als Bedrohung empfinden. Im Nachhinein mag es einfach erscheinen, das Wien der Jahre 1900 bis 1938 als ein Schlachtfeld zwischen Positiv und Negativ, wie Sie es ausdrücken, oder Gut und Böse zu charakterisieren - und das Böse hat mit dem "Anschluss" 1938 umfassend gewonnen. Aber eine Schlacht erfordert, dass zwei Seiten kämpfen, sich engagieren - und in diesem Fall hat das gute Wien den aufziehenden Sturm um sich herum größtenteils nicht bemerkt, so sehr waren sie auf ihre eigenen kreativen und humanen Bemühungen konzentriert. Sie blickten einfach sehr aufmerksam in eine andere Richtung.
Jeder wusste über den Antisemitismus Bescheid, aber es scheint, dass er erst dann ernst genommen wurde, als Studenten, z.B. an der Universität Wien, gewaltsam und persönlich damit konfrontiert wurden - und da war es eigentlich schon zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen. Das "Schwarze Wien", das "faschistische Wien" hingegen war einzig und allein darauf ausgerichtet, das gute Wien zu zerstören - ja, die Rechte dieser Zeit definierte sich fast ausschließlich über den Gegensatz zum "guten Wien" und war auf dessen Zerstörung aus. Das gab dem "Schwarzen Wien" einen enormen Vorteil. Das ist der Grund, warum so viele junge Wiener ab den frühen 1930er-Jahren zu Kommunisten wurden - weil sie klar sehen konnten, dass das liberale, sozialdemokratische Wien, die Stadt des Goldenen Zeitalters, einfach nicht in der Lage war, den Faschismus zu bekämpfen - und daher auf die Kommunisten hofften.
APA: Viele Menschen heutzutage sehen in dem enormen Zulauf zu rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien eine große Gefahr für den Liberalismus und die Demokratie und fühlen sich an die 1920er- und 1930er-Jahre erinnert. Sie selbst beschreiben ja, dass nicht Wissenschaft und Fakten, sondern Pathos und Lügen die Oberhand gewonnen haben. Droht sich die Geschichte zu wiederholen?
Cockett: Gute Frage, und in der Tat hat die heutige Politik Ähnlichkeiten mit den 1920er- und 1930er-Jahren, erst recht, wenn Trump in ein paar Wochen die Wahl gewinnt. Aber es gibt auch Unterschiede - die zivilen und demokratischen Institutionen sind stärker, und wir haben auch das Beispiel der Geschichte selbst, das uns zeigt, welche Wege wir nicht einschlagen sollten. Aber ja, ich würde sagen, wenn die EU das zeitgenössische Modell des Habsburger Reiches ist - pluralistisch, einwanderungsfreundlich, offen, liberal usw. -, dann ähneln die Reaktionen gegen sie (z.B. Orban, Meloni, FPÖ, Le Pen, Farage/Brexit) stark den nationalistischen Reaktionen gegen das Kaiserreich.
APA: Sie thematisieren in Ihrem Buch auch den Exodus der Genies, Vertreibung und Migration. Hätten sich die in Wien geschmiedeten Ideen auch ohne dies in der ganzen Welt verbreiten können?
Cockett: Zum Teil, ja - und ich zeige in dem Buch, wie die USA und Großbritannien schon lange vor der Katastrophe der 1930er-Jahre Wiener Talente angeworben haben. In diesem Zusammenhang denke ich, dass man mit Fug und Recht sagen kann, dass es die Niederlage des Kaiserreichs am Ende des Ersten Weltkriegs und die darauffolgende Armut und Instabilität des Landes waren, die die jungen Leute wirklich dazu veranlassten, das Land zu verlassen. Zweifellos hätten sich die Ideen aus Wien ohnehin nach Übersee verbreitet, aber es hätte sicher länger gedauert. Und vielleicht hätten auch die eindringlichen Warnungen von Hayek, Popper und anderen vor den Übeln des Faschismus/Kommunismus nicht so viel Anklang gefunden.
APA: Wie gut kennen Sie Wien heute - und was denken Sie über den aktuellen Zustand der Stadt?
Cockett: Ich kenne Wien ziemlich gut und komme mehrmals im Jahr in die Stadt. Natürlich ist sie heute ganz anders, als ich sie mir früher vorgestellt habe. Es ist, wie jeder sagt, eine sehr lebenswerte und komfortable Stadt, aber seit den 1920er/30er-Jahren steht sie im kulturellen und intellektuellen Leben Europas und der Welt am Rande.
(Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA per Mail)
(ZUR PERSON: Der Brite Richard Cockett, Jahrgang 1961, ist Historiker, Autor sowie Journalist des Wirtschafts- und Nachrichtenmagazins "The Economist". Er war u. a. Korrespondent in Mexiko und Zentralamerika sowie Afrika und Südostasien. Zu seinen Büchern zählen "Thinking the Unthinkable: Think-tanks and the Economic Counter-revolution, 1931-1983" (1994), "New Left, New Right and Beyond. Taking the Sixties Seriously" (1999), "Sudan: Darfur and the failure of an African State" (2010) und "Blood, Dreams and Gold: The Changing Face of Burma" (2015) Er war Gastprofessor für Politik und Geschichte am Royal Holloway Institut der Universität London und ist zurzeit Fellow am Institute for Advanced Studies an der Princeton University. Sein neues Buch ist im Original unter dem Titel "Vienna: How the City of Ideas Created the Modern World" im Vorjahr erschienen.)
Service: Richard Cockett: "Stadt der Ideen - Als Wien die moderne Welt erfand", Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Molden Verlag, 432 Seiten, 40 Euro, Präsentationen: 21. November, 19 Uhr: Universität für Angewandte Kunst Wien, 22. November, 11.30 Uhr, Buch Wien)