Wer verschuldet sich beim Kreditgeber letzter Instanz?
Zentralbanken sind die Kreditgeber letzter Instanz. Sie finanzieren Geschäftsbanken selbst dann, wenn kaum andere Anleger dazu bereit sind. Dies trägt dazu bei, Liquiditätsengpässe oder gar Bankenpaniken zu verhindern. Nehmen Geschäftsbanken Zentralbankkredite vor allem deshalb auf, um Liquidität sicherzustellen, oder gibt es auch andere Motive? Die vorliegende Studie analysiert die Kreditvergabe der Europäischen Zentralbank (EZB) an Geschäftsbanken während der Staatsschuldenkrise. Die Ergebnisse zeigen, dass schwache Banken mit wenig Eigenkapital überproportional viele Kredite bei der EZB aufnahmen und gleichzeitig Staatsanleihen der Krisenstaaten kauften. So kam es zu einer Umverteilung risikobehafteter Vermögenswerte von stark zu schwach kapitalisierten Banken. Christian Keuschnigg, Michael Kogler, Herausgeber.
Quelle: Drechsler, I., Drechsel, T., Marques-Ibanez, D., & Schnabl, P. (2016). Who borrows from the lender of last resort? The Journal of Finance, 71(5), S. 1933-1974.
Vertrauen spielt im Bankensystem wohl die wichtigste Rolle. Schwindet das Vertrauen, kann es zur Bankenpanik kommen. Viele Sparer ziehen zeitgleich ihre Einlagen ab. Da Banken nur wenig Liquidität vorrätig halten und ihre Vermögenswerte vor allem aus langfristigen Krediten bestehen, kann Illiquidität ihren Kollaps bedeuten. Ein solches Szenario zu verhindern ist eine der Hauptaufgaben von Zentralbanken. Als Kreditgeber letzter Instanz helfen sie, Liquiditätsengpässe bei Banken zu vermeiden. Allein durch ihr Versprechen, im Notfall Banken schnell und unlimitiert Kredite zur Verfügung zu stellen, stärken die Zentralbanken das Vertrauen der Kunden in die Sicherheit ihrer Einlagen und können so eine Panik verhindern.
Worin genau besteht die Motivation der Geschäftsbanken, einen Zentralbankkredit aufzunehmen? Neben der Vermeidung von Liquiditätsengpässen gibt es noch weitere Gründe, die durchaus problematisch sein können. Gerade schwache Banken mit wenig Eigenkapital haben oft einen Anreiz, solche Kredite in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig in risikoreiche Anlagen zu investieren. Denn ihre Eigentümer können so höhere Gewinne erzielen, tragen aber aufgrund der beschränkten Haftung nicht die vollen Kosten einer möglichen Insolvenz.
Zentralbanken müssen daher die Auswirkungen ihrer Kreditvergabe an Geschäftsbanken laufend beobachten und deren Nutzen und Kosten abwägen. Denn einerseits verhindern solche Kredite Illiquidität und einen Vertrauensverlust der Bankkunden, andererseits können sie Fehlanreize verstärken und damit die Stabilität der Banken untergraben.
Eine Zentralbank sollte wissen, welche Banken sich aus welchen Motiven bei ihr verschulden. Ein Forscherteam um Philipp Schnabl und Itamar Drechsler von der New York University und der EZB geht dieser Frage nach. Sie untersuchen die Vergabe von Krediten durch die EZB während der Staatschuldenkrise 2010. Dabei geht es um eine der größten Kreditprogramme in der Geschichte.
Wie vergibt die EZB Kredite an Geschäftsbanken? Jedem Kredit steht eine Sicherheit gegenüber, die sie im Notfall verpfänden kann. Besonders häufige Sicherheiten sind Staatsanleihen, deren Wert jedoch schwankt. Je nach Höhe des Risikos, zieht die EZB deshalb einen Betrag ab. Dieser sogenannte "Haircut" dient als Puffer für mögliche Wertverluste. Bietet z.B. die Geschäftsbank Staatsanleihen im Wert von einer Million Euro als Sicherheit an, erhält sie bei einem Haircut von 20 Prozent einen Kredit von 800'000 Euro. Seit der Finanzkrise unterliegen risikoreiche Sicherheiten jedoch geringeren Haircuts als an privaten Märkten üblich. Dies stellt "Haircut Subvention" dar, da die Banken bei der EZB für dieselben Sicherheiten einen höheren Kredit erhalten.
Je nach Höhe des Risikos einer Sicherheit, erhält eine Geschäftsbank einen Kredit bei der EZB. Die EZB schlägt allerdings einen Betrag als Puffer für mögliche Wertverluste ab ("Haircut"). Während der Finanzkrise 2008 wurde der Haircut für risikoreiche Sicherheiten gesenkt.
Die vorliegende Studie verwendet neue, detaillierte Daten zu allen wöchentlichen Krediten der EZB zwischen August 2007 und Dezember 2011. Die Autoren sammelten Informationen zur Höhe des Kredites, zu den Haircuts und zur Fälligkeit. Außerdem erfassten sie das Risikoprofil der Banken anhand ihres Ratings und weiterer Merkmale. Der Datensatz umfasst 284 europäische Banken. Rund ein Fünftel davon befand sich in Ländern, welche im Beobachtungszeitraum in eine Staatsschuldenkrise gerieten, wie Zypern, Griechenland oder Irland. Die Bilanz einer typischen Bank hatte einen Umfang von 121 Milliarden Euro. Ihre Vermögenswerte, überwiegend Kredite, wurden zu rund zwei Dritteln durch Spareinlagen finanziert. Der Anteil des Eigenkapitals lag, je nach Berechnung, zwischen sechs und elf Prozent. Beachtlich ist, dass jede Woche mehr als die Hälfte der Banken Zentralbankkredite aufnahmen. Über den beobachteten Zeitraum nahm eine Bank durchschnittlich Kredite in Höhe von 1,8 Milliarden Euro auf.
Die 284 Banken hatten eine durchschnittliche Bilanzgröße von 121 Milliarden Euro. Bloß 6 bis 11 Prozent der Vermögenswerte waren durch Eigenkapital gedeckt. Das durchschnittliche Rating der Banken lag zwischen A+ und A-.
Im Oktober 2008 hatte die EZB Kredite an Geschäftsbanken in Höhe von rund 735 Milliarden Euro vergeben. Im Juli 2009 sowie Juni 2010 erreichten diese Kredite mit rund 800 Milliarden Euro pro Monat einen Höchststand. Das lag daran, dass die EZB während der Krise Kredite mit längeren Laufzeiten anbot, welche für die Banken besonders attraktiv waren. Anschließend reduzierte sie die Kreditvergabe allmählich auf etwa 250 Milliarden Euro bis zu einer erneuten Trendumkehr im Juni 2011. Die Sicherheiten auf der anderen Seite blieben stabil bei rund 1,9 Billionen Euro. Über den beobachteten Zeitraum verlangte die EZB einen durchschnittlichen Haircut von 8,5 Prozent auf die hinterlegten Sicherheiten.
Welche Banken verschulden sich in erster Linie bei der EZB? Wenn das Hauptmotiv für einen Zentralbankkredit darin besteht, damit in riskante Anlagen zu investieren, müssten sich Banken mit wenig Eigenkapital und tiefem Rating überproportional stark bei der EZB verschulden. In der Tat bestätigen die Forscher diese Hypothese: Zum einen zeigen sie, dass sich schwächere Banken mit wenig Eigenkapital während der Krise vermehrt bei der Zentralbank verschuldeten. Verschlechtert sich das Rating einer Bank um zwei Stufen (z.B. von AAA auf AA), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Zentralbankkredits um durchschnittlich elf Prozentpunkte und die Höhe des Kredits um rund 15 Prozent. Allerdings machen die Forscher darauf aufmerksam, dass diese Ergebnisse lediglich für die zweite Hälfte der Krise zutreffen. Das ist ein Indiz dafür, dass der Anreiz, mehr Risiken einzugehen, stärker wurde, je länger die Finanz- und Staatsschuldenkrise andauerte. Zum anderen zeigt die Untersuchung, dass kapitalschwache Banken im Gegenzug für die Kredite der EZB vermehrt risikobehaftete Sicherheiten hinterlegten und somit die erwähnte Haircut Subvention nutzten. Wird das Rating einer Bank um zwei Stufen herabgestuft, reduziert sich auch das Rating ihrer Sicherheiten um ein Fünftel des ursprünglichen Werts.
Verschlechtert sich das Rating um zwei Stufen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Kreditaufnahme bei der EZB um 11 Prozentpunkte und die Höhe des Kredits um 15 Prozent.
Ändern sich die Ergebnisse, wenn man Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten berücksichtigt? Sind Banken in wirtschaftlich angeschlagenen Ländern stärker betroffen, spräche dies dafür, dass sie Zentralbankkredite hauptsächlich aus Liquiditätsgründen aufnehmen. Jedoch ist die wirtschaftliche Lage der Staaten kaum ein ausschlaggebender Faktor dafür. Selbst wenn man die Unterschiede zwischen den Staaten berücksichtigt, nehmen Banken mit hohem Insolvenzrisiko überproportional Kredite bei der EZB auf. Der Zusammenhang ist eher schwach ausgeprägt.
Deutlicher wird es, wenn man nur Banken aus den wirtschaftlich stabilen Ländern betrachtet. Dort kam es zu weniger Abflüssen von Spareinlagen oder Bankpaniken, weshalb das Liquiditätsmotiv schwächer ist. Die Ökonomen zeigen aber, dass auch in jenen Ländern das Rating einen Einfluss auf die Kreditaufnahme sowie die Qualität der Sicherheiten hat.
Wie veränderte sich dadurch die Verteilung von risikobehafteten Sicherheiten innerhalb des Bankensystems? Die Forscher konzentrierten sich auf Staatsanleihen europäischer Krisenstaaten und verglichen die Bestände von gut kapitalisierten Banken mit geringem Insolvenzrisiko und schwach kapitalisierten Banken mit hohem Insolvenzrisiko. Insgesamt nahmen die Anleihenbestände der Banken von 74 Milliarden Euro 2008 auf 119 Milliarden Euro im Jahr 2009 zu. Abbildung 1 zeigt die Umverteilung dieser risikoreichen Sicherheiten während der Krise: Bis zum Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers im September 2008 hielten die stark kapitalisierten Banken die meisten riskanten Staatsanleihen, jedoch verringerten sie ihren Bestand zwischen 2009 und 2011 von rund 50 auf 30 Milliarden Euro. Gleichzeitig kauften schwach kapitalisierte Banken immer mehr Staatsanleihen von Krisenstaaten. Ihr Bestand erhöhte sich von 20 auf über 90 Milliarden Euro. Sie konnten diese Anleihen als Sicherheiten für Zentralbankkredite nutzen. So ging die ausgeweitete Kreditvergabe der EZB mit einer Umverteilung von Risiken innerhalb des Bankensystems einher.
Zusammenfassend zeigt die Analyse, dass sich schwach kapitalisierte Geschäftsbanken während der europäischen Staatsschuldenkrise weniger aus Liquiditätsgründen bei der EZB verschuldeten, sondern vielmehr, um in riskante Anleihen von Krisenstaaten zu investieren. Solche Banken nahmen Zentralbankkredite auf und hinterlegten im Gegenzug risikoreiche Sicherheiten.
Kontakt: Lia SONVILLA Universität St. Gallen Master in Economics (MEcon) lia.sonvilla@student.unisg.ch
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