Science Talk: "Dem Ethikunterricht fehlen die Feiertage"
Nach etwas mehr als 20 Jahren Schulversuch Ethik stellt sich offenbar noch immer die Frage, ob ein friedliches Nebeneinander von Ethik und Religion in der Schule überhaupt möglich ist. "Fast schon diskriminierend" fand Georg Gauß von der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Ethik bei einer Diskussion die Tatsache, dass man erst durch eine Abmeldung vom Religionsunterricht Ethikklassen besuchen könne.
Begonnen hat der Schulversuch 1997, daran beteiligt waren mehr als 200 Schulen. Mit dem Schuljahr 2020/21 ist die Einführung von Ethik als Ersatzpflichtgegenstand zum Religionsunterricht an der Sekundarstufe II, also der Oberstufe, geplant. Darauf, so Michael-Albert Jahn vom Institut für Philosophie der Universität Wien, habe man seit mehr als 20 Jahren hingearbeitet. Mittelfristiges Ziel müsse auch die Einführung in die Sekundarstufe I sein, waren sich Experten bei einem vom Wissenschaftsministerium veranstalteten Science Talk zum Thema "Ethik und Religion in der Schule" einig. "Die Gesellschaft hat wesentlich früher die Verantwortung, da etwas zu tun", betonte Andrea Pinz vom Schulamt der Erzdiözese Wien. "Spätestens ab der Sekundarstufe I - da kann das Zusammenleben noch leichter gestaltet werden."
Pädagogen in der Verantwortung
Ethikunterricht müsse den Schülern die Möglichkeit bieten, sich mit Andersdenkenden auszutauschen, über andere Perspektiven zu diskutieren, zu reflektieren und sich daraus eine eigene Meinung zu bilden. "Das höchste Ziel", erklärte Gauß, "ist ein verantwortungsvolles Handeln. Dieses Ziel kann erreicht werden, indem man Situationen im Vorhinein erkennt, realisiert, kritisiert und die eigenen Meinungen kritisieren lässt, was zu einem besseren Umgang miteinander führt." Um möglichst wertfrei vermitteln zu können, müsse der Pädagoge daher als Moderator der Diskussionen agieren und sich selbst zurücknehmen, so Jahn.
Dafür stimmen allerdings die Rahmenbedingungen noch nicht, befand Pinz. Da durch die Eingliederung in den Regelunterricht plötzlich ein großer Bedarf an Lehrern entstünde, würde die Ausbildung zu kurz kommen. Dabei liege viel Verantwortung bei den Pädagogen: "Es kommt auf die Lehrer, auf die Kommunikation im Unterricht an. Hier muss man auf die Qualität achten. Da hoffe ich auf sehr viel Engagement und Mut von allen beteiligten Pädagogen, damit das gut wird."
"Religion schließt Ethik ein"
Der Ethikunterricht habe gegenüber dem Religionsunterricht "den Vorteil, dass er konfessionsfrei ist und von verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften, Atheisten und Agnostikern gleichermaßen wahrgenommen werden kann", befand Gauß. Ethikunterricht stelle so einen "Mikrokosmos" der Gesellschaft dar, etwas, was der konfessionelle Religionsunterricht nicht bieten könne. Einziger Nachteil: der Ethik würden "die Feiertage fehlen", die Teil der Religion sind. Dass der Ethikunterricht trotzdem nicht dieselbe Stellung wie der Religionsunterricht einnehmen kann, wurde von ihm heftig kritisiert. Das Besuchen des einen setze die Abmeldung des anderen voraus. Dabei würden die steigenden Abmeldungszahlen vom Religionsunterricht eine klare Sprache sprechen.
Diesen Vorwurf wies Pinz entschieden zurück. Wenn jeder Schüler sich ohne Konsequenzen von einem Fach seiner Wahl abmelden könne, wie es momentan beim Religionsunterricht der Fall ist, würde die Lage anders aussehen, betonte sie. Ethik und Religion seien oft deckungsgleich, Religion dürfe nicht von den Lehrplänen verschwinden. "Religion schließt Ethik ein, ist aber immer mehr als Ethik. Dieses Mehr der Religion ist ganz entscheidend für die Gesellschaft." Die religiöse Erziehung nicht außerhalb des öffentlichen Raumes zu gestalten, beuge Fundamentalismus vor. "Religion ist ein wichtiger Teil des Menschen. Dass diese Auseinandersetzung in Hinterhöfen und hinter verschlossenen Türen geschieht, kann nicht das Ziel der Gesellschaft sein." Das Christentum habe die europäische Geisteshaltung stark geprägt und sei deshalb auch aus dem ethischen Diskurs nicht wegzudenken.
"Man sollte kein künstliches Gegeneinander hochstilisieren", forderte Jahn. Es sei "im wahrsten Sinne des Wortes unethisch", wenn man den Religionsunterricht in eine Nische am Nachmittag verschieben würde. Große Teile der gläubigen Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten, würden so entwurzelt werden. Menschenrechte und der humanistische Gedanke müssten das gemeinsame Ziel der beiden Fächer sein.