Auschwitz-Befreiung - Historiker: Wahrheit bleibt ohne Zeitzeugen
Der führende deutsche Auschwitz-Experte Ernst Piper ist überzeugt davon, dass die Wahrheit über das Menschheitsverbrechen des Holocaust auch nach dem Ableben der letzten Zeitzeugen Bestand haben wird. "Die historische Wahrheit zukunftsfest zu machen ist nicht ihre Aufgabe", sagte Piper im APA-Interview anlässlich des 80. Jahrestages (27. Jänner) der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz. "Es gibt kaum etwas, was gerichtsfester nachgewiesen ist als dieses Geschehen", betonte er.
So seien die Namen der 1,1 Millionen Ermordeten in Auschwitz mittels Transportlisten "überwältigend dokumentiert", sagte der Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Entsprechend sei das Thema der Holocaust-Leugnung spätestens seit den Urteilen gegen den britischen Rechtsextremisten David Irving "erledigt". Der studierte Historiker hatte in den 1980er Jahren öffentlich den Vernichtungszweck der Gaskammern und Krematorien in Auschwitz geleugnet und war dafür in mehreren Staaten, darunter Österreich, strafrechtlich verurteilt und mit Einreiseverboten belegt worden.
Zahl der Überlebenden derzeit "im dreistelligen Bereich"
Die Zahl der noch lebenden Auschwitz-Überlebenden sei aktuell noch "im dreistelligen Bereich", schätzte Piper. Dass es irgendwann keine Zeitzeugen mehr gebe, sei "in der Natur der Sache bei jedem historischen Ereignis". Im Fall des Holocaust sei man aber von den Erinnerungen der Überlebenden besonders gebannt, weil das Geschehen "so ungeheuerlich, so unvorstellbar ist". Sie seien aber keine Forscher und würden sich manchmal auch täuschen. "Zeitzeugen sind nicht für die historische Wahrheit zuständig. Sie helfen uns, uns in die Gefühlswelt hineinzuversetzen, aber ersetzen nicht die Geschichtsschreibung."
Piper wies darauf hin, dass bereits zehntausende Holocaust-Überlebende in Videointerviews Zeugnis abgelegt hätten. Außerdem gebe es zahlreiche Bücher, Spielfilme und Dokumentationszentren. Schließlich könne man bei einem Besuch von Gedenkstätten wie in Auschwitz-Birkenau die dortige "starke Aura auf sich wirken lassen". Auch deshalb sei ihm "nicht so bange", was die künftige Erinnerung an den Holocaust betrifft. Herausfordernd sieht Piper allerdings die Wissensvermittlung an die wachsende Gruppe von arabischstämmigen Menschen in Deutschland, weil diesbezüglich von vielen ein direkter Zusammenhang mit dem Staat Israel hergestellt werde. "Lehrer trauen sich nicht Dinge zu thematisieren. Die Kinder werden auch durch ihre Eltern indoktriniert", sagte Piper. "Wir müssen auf jeden Fall Aufmerksamkeit und Geld in die Hand nehmen", brachte der Historiker auch Wissensvermittlung durch Angehörige der Communities ins Spiel.
Zentrale Rolle von Auschwitz wegen Rüstungsproduktion
Piper hat die erste Monografie zum Thema Auschwitz verfasst, die im Frühjahr erscheinen soll. Darin wird der aktuelle Forschungsstand zum NS-Vernichtungslager zusammengefasst. Im APA-Interview betonte er, dass es bei diesem Thema kaum noch weiße Flecken gibt. "Es gibt keine grundlegenden Dinge, die nicht erforscht sind oder tabuisiert", sagte er. Der letzte große Schub in der wissenschaftlichen Aufarbeitung sei nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre erfolgt, als die sowjetischen Archive geöffnet wurden. Auschwitz war am 27. Jänner 1945 von sowjetischen Truppen befreit worden.
Unter anderem greift Piper in seinem Buch auch die Frage auf, wie aus dem "normalen Konzentrationslager" Auschwitz, in dem zunächst nur Polen inhaftiert wurden, das größte NS-Vernichtungslager werden konnte. Eine zentrale Rolle dürfte dabei die geografische Lage Oberschlesiens gespielt haben, das im Verlauf des Zweiten Weltkriegs als Standort für die Rüstungsproduktion große Bedeutung bekommen habe. Oberschlesien sei nämlich für die britische Luftwaffe weit weg gelegen, weswegen Produktionsstätten aus dem Ruhrgebiet dorthin verlegt worden seien. So sei dann ein "Mikrokosmos" des NS-Staates mit über 40 Außenlagern, Industriebetrieben und auch landwirtschaftlichen Betrieben entstanden.
"In jedem Land gibt es eine andere Erinnerungspolitik"
Während die historischen Fakten feststehen, entwickelt sich die Erinnerungspolitik weiter. "In jedem Land gibt es eine andere Erinnerungspolitik", sagte Piper unter Verweis auf Polen, wo es spezifische "Opfernarrative" gebe und die frühere rechtskonservative Regierung die Verwendung bestimmter Begriffe sogar gesetzlich verboten habe. Zwar entwickle sich der Dialog zwischen Berlin und Warschau positiv, doch sei man noch nicht "ganz so weit" wie im deutsch-französischen Verhältnis, wo Historiker zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs gemeinsam einen Text verfasst hatten.
In Deutschland würde eine führende politische Rolle der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) in Sachen Erinnerungspolitik "vieles verändern", räumte Piper auf eine entsprechende Frage ein. "Ich denke nicht, dass sie sagen: Jetzt müssen alle KZ-Gedenkstätten geschlossen werden", erwartet der Historiker von den Rechtspopulisten keinen Griff in die "braune Mottenkiste", sondern eine "Bekenntnis zur deutschen Nationalgeschichte". Die von der AfD ausgehende Gefahr liege nicht in einem Rekurs auf die NS-Zeit, sondern woanders. "Das Vorbild von (AfD-Chefin Alice) Weidel heißt nicht Hitler, sondern (US-Präsident Donald) Trump."
Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA