Sozialforscher Badelt übt Kritik an politischer Diskussion über Armut
Der Präsident des Fiskalrats und Sozialforscher Christoph Badelt übt Kritik an der politischen Diskussion über das Thema Armut. Diese werde "leider sehr schräg geführt", so Badelt in einem Pressegespräch zum Tag für die Beseitigung der Armut am Dienstag. Das führe dazu, dass Armutspolitik nicht so ernst genommen werde, wie sie es sollte. Vor allem die Debatte über Kinderarmut orientiere sich nicht am sachlichen Diskurs. "Es geht nur darum, den politischen Gegner anzupatzen."
Badelt, emeritierter Professor am Institut für Sozialpolitk der Wirtschaftsuniversität (WU), hat zusammen mit seiner WU-Kollegin Karin Heitzmann eine Forschungsarbeit über die Messung von Armut verfasst. Er finde es "ganz schlimm, wenn jetzt manche durch die Gegend reisen und sagen, bei uns hungern 316.000 Kinder". Zur Begründung nehme man Daten aus verschiedenen Erhebungen, die ganz andere Dinge messen. "Das mag eine bewusste Lüge sein, das mag eine Ungenauigkeit sein - es ist vor allem schlimm, wenn es dazu dient, das Problem in eine Größe zu blasen, dass es der politische Gegner nicht mehr ernst nimmt."
Anti-Armutspolitik muss Arbeitslosigkeit verhindern
Das gelte auch umgekehrt, etwa wenn gesagt werde, man müsse nur arbeiten gehen, um nicht arm zu sein. Natürlich stimme es, dass Arbeitslose unabhängig vom konkreten Indikator stärker von Armut betroffen sind. "Wenn man aber sagt, wir hätten keine Armen, wenn die Leute nur hackeln gehen würde, ist das eine zynische Uminterpretation", so Badelt. Primär gehe es darum, dass eine Anti-Armutspolitik verhindern müsse, dass Menschen arbeitslos werden.
Den Umfang der Armut zu messen ist für Badelt nur scheinbar ein statistisches Problem. In Wahrheit gehe es um politische Werturteile. Der heute am häufigsten verwendete Begriff ist die "Armutsgefährdung" - wobei der Wortteil "-gefährdung" in der Diskussion dann häufig verschwinde. Als armutsgefährdet gelten Haushalte, deren gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen geringer als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte ist. Für einen Ein-Personen-Haushalt entsprach das 2021 monatlich 1.392 Euro. Damit wären etwa alle Mindestpensionisten und -pensionistinnen, aber auch alle durchschnittlichen Alterspensionistinnen armutsgefährdet.
"Die Frage ist: Sollen wir uns auf eine politische Diskussion einlassen, in der die Leute alle arm sind?", meinte Badelt. Bei Verwendung eines relativen Armutsbegriffs (weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens) könne Armut de facto nicht abgeschafft werden. Die dadurch gewonnen Zahlen sagten nichts darüber aus, wie viele Menschen sich aufgrund der Inflation kein warmes Essen mehr kaufen können.
Solche absoluten Armutsmaße werden etwa über die sogenannten Indikatoren der "erheblichen materiellen und sozialen Deprivation" von der EU veröffentlicht. Daraus kann man etwa durch Befragungen schließen, wie viele Menschen etwa nur schwer ihre Wohnung heizen oder nicht auf Urlaub fahren können - wobei diese Einschätzungen oft sehr subjektiv seien, so Badelt.
Bei der Entwicklung der Armutszahlen zuletzt gebe es sehr unterschiedliche Dimensionen, betonte Heitzmann. So sei die Einkommensarmut zuletzt stabil geblieben, während die Arbeitsmarktlage sich verbessert und das subjektive Auskommen mit den aktuellen Einkommen angesichts der hohen Inflation sich verschlechtert habe.
Viele Daten werden nicht erfasst
Dazu komme, dass trotz vieler Daten manche Personen von den aktuellen Zahlen gar nicht erfasst werden. Die EU-SILC-Zahlen erfassen etwa nur private Haushalte - damit seien etwa Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose, illegale Migranten oder auch Pflegeheimbewohner nicht erfasst, so Heitzmann.
Weiteres Problem: "Es ist ein großer Unterschied, über Stichprobenuntersuchungen viel über Armut oder prekäre Lebenssituationen zu wissen oder politische Maßnahmen zu setzen", meinte Badelt. "Dafür müssten Sie die anonyme Stichprobe verlassen und wissen, wer das ist - die Frau Mayer oder der Herr Müller." Dazu brauche man dann Verwaltungsdaten, die derzeit aber nicht vorliegen bzw. nicht verknüpft werden.
Als konkrete Maßnahme gegen Armut kann sich Badelt vorstellen, die "unseligen Folgen des Sozialhilfegesetzes zu beseitigen" und in Richtung einer echten bedarfsorientierten Mindestsicherung zu gehen.