Expertin: Klimakrise und Inflation gebieten Fokus auf Alltagsökonomie
Wohnen, Wasser und Energie, Transport, Bildung und auch die Gesundheitsversorgung sind essenzielle Güter und Dienstleistungen für Lebensqualität, die in der "Krise der Lebenshaltungskosten" ins Wanken geraten: "In Europa haben wir vergessen, was Inflation bedeutet", sagte Julie Froud von der University of Manchester zur APA. Die Stärkung dieser Systeme der "Alltagsökonomie", auch angesichts der Klimakrise, diskutieren Experten bei einer Konferenz ab Samstag in Wien.
Wenn man auf die Klimakrise Antworten finden wolle, seien ein Überdenken von öffentlichen Infrastrukturen, Daseinsvorsorge und Nahversorgung und die Dekarbonisierung der Bereiche eine Notwendigkeit. "Man kann die Klimakrise nicht angehen, ohne sich um Wohnraum, Lebensmittel und Transport zu kümmern", so Froud. Wie das gehen kann, müsse sich in einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs niederschlagen.
"Alltagsökonomie" (Foundational Economy) adressiert jene Dienstleistungen und Infrastrukturen, die "die meisten von uns die meiste Zeit nutzen", so die Professorin für finanzielle Innovation. Der Wirtschaftsbereich beinhalte all jene Elemente, die mit einem Wohlfahrtsstaat assoziiert sind, etwa auch Nahrungsmittelversorgung, sauberes Trinkwasser und Abfallmanagement. "Es geht um jene, Dinge, die für uns organisiert sind, sodass wir unser Leben leben können", so Froud. In der westlich zivilisierten Welt würden diese grundlegenden Güter und Infrastrukturen als gegeben angesehen - vor allem, "wenn die Systeme funktionieren".
Systeme, die nicht mehr in unserem Interesse funktionieren
Privatisierung und profitausgerichtete Betriebe, nicht getätigte Investitionen, etwa im Bahnverkehr, wie in Deutschland der Fall, oder auch vor einigen Jahrzehnten erbaute Schulen, die heute Sicherheitsmängel aufweisen und "den Schulbetrieb von hunderten Schulen in Großbritannien" einschränken - "die Probleme mögen in jedem Land etwas anders gelagert sein, aber es vereint uns in Europa, dass Systeme nicht mehr in unserem Interesse funktionieren", so Froud. Die derzeitige Inflation treffe dabei nicht nur die ärmere Bevölkerung, sondern auch jene Haushalte, die nun plötzlich ihr Haushaltsbudget überdenken müssten. Es gehe aber nicht nur um eine aktuelle Krise der Lebenshaltungskosten, sondern auch eine "chronischere Krise für Haushalte beim Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen und sozialer Infrastruktur".
Hinzu komme die Klimakrise: Bildung, Pflege, Gesundheitswesen seien Bereiche, die einen geringen CO2-Fußabdruck haben, sagte Froud. Aber CO2-Emissionen spielten in Systemen wie etwa Verkehr, Transportwesen, Energieversorgung, Nahrungsmittelbereitstellung, aber auch im Kontext von zu heißen Wohnungen im Sommer eine zentrale Rolle. "Hier braucht es neue Konzepte, wie wir die Systeme neu aufsetzen können", so die Forscherin, die bei der "Foundational Economy Conference" an der Technischen Universität (TU) Wien einen Vortrag halten wird.
Es gebe bei den Emissionszielen und einer zu erreichenden Klimaneutralität bis 2050 in Europa zwar eine gewisse politische Verpflichtung, etwas zu tun. Aber das Setzen von schnelleren Maßnahmen sei weniger sicher, auch in Anbetracht der hohen Kosten, die eine Dekarbonisierung beinhalten. Es gehe aber nicht nur um Mittel, sondern auch um Expertise und zur Verfügung stehende Technologien, um die ökosoziale Transformation zu ermöglichen. Auch die Dekarbonisierung von Privathaushalten und entsprechende Verantwortungen seien noch eine offene Frage.
"Alltagsökonomie" sei eher "eine akademische Art zu denken", so Froud. In Wales habe man aber etwa einen Ansatz zur Alltagsökonomie angenommen, auch wenn es hier noch nicht wirklich Klarheit gebe, was man politisch darunter versteht. "Man hat erkannt, dass es Alltagsökonomie gibt und dass man sie angehen muss." Andere Regierungen würden zwar die Bedeutung der einzelnen Bereiche wie Energie, Transport, Wohnraum anerkennen, man habe die Bereiche aber oft noch nicht kollektiv in ihrer Bedeutung für das Alltagsleben zusammengedacht.
Wirtschaftswachstum ist nicht das Maß aller Dinge
Nur auf Wirtschaftswachstum zu setzen und anzunehmen, dass Produktivität höhere Löhne, mehr Kaufkraft, höhere Steuereinnahmen bringt und alle individuell ihren Lebensstandard verbessern können, helfe nicht. "Es ist nicht klar, wie man wirtschaftliches Wachstum erreichen kann und ob wir das überhaupt angesichts von Dringlichkeiten, die im Kontext von Natur und Klima bestehen, wollen. Und wollen wir überhaupt mehr privaten Konsum, wenn wir die Systeme nachhaltig aufstellen wollen?" Das seien einige der Fragen, denen man sich stellen müsse, so Froud.
In einem heuer veröffentlichen Buch, das Froud mit Kollegen schrieb, stellte das Team ein neues Modell vor, das auf drei Säulen der Lebensqualität setzt: verfügbares Einkommen und "Residualeinkommen" (Einkünfte werden in Beziehung zu den Lebenshaltungskosten gesetzt), Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen (Bildung, Gesundheitsversorgung, Ärzte, öffentliche Verkehrsmittel etc.) und soziale Infrastruktur (Büchereien, Parks, Sportzentren und andere soziale Treffpunkte). Es soll beitragen zu beantworten, "wie wir Dekarbonisierung managen wollen, ohne nur auf Wachstum zu setzen, und wie soziale Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen unsere Bedürfnisse nachhaltig stillen können". "Es braucht eine öffentliche Diskussion darüber, was uns wichtig ist. Die Argumente für ein Umdenken sind wohl sehr klar, auch wenn die politische und praktische Umsetzung eine schwierige ist", so die Forscherin.
Service: "6th Foundational Economy Conference Vienna", 14.-16. 9. an der Technischen Universität Wien, https://www.tuwien.at/ar/ifip/fec23