Instabile Wirtschaftslage verstärkt Tendenz zum "Spatz in der Hand"
Würden Sie lieber 500 Euro sofort oder 550 Euro in einem Jahr haben? Laut einer Studie mit mehr als 13.000 Teilnehmern aus 61 Ländern (darunter Österreich) bevorzugen Menschen aller Einkommensgruppen häufig den "Spatz in der Hand", statt auf die "Taube am Dach" zu warten. Je höher die Inflation und die Einkommensunterschiede sind, desto eher greifen Menschen zum geringeren, sofort verfügbaren Betrag, berichten die Forscher im Fachblatt "Nature Human Behaviour".
Ein großes Forscherteam um Kai Ruggeri von der Columbia University (USA), dem zahlreiche Nachwuchswissenschafterinnen und -wissenschafter angehörten, hat sich in der Studie dem Phänomen des sogenannten "temporal discounting" angenommen, was wörtlich übersetzt "zeitliche Diskontierung" bedeutet. "Ich würde es eher als 'Abwerten zukünftiger monetärer Belohnungen' bezeichnen", erklärte Sandra Geiger von der Stadt- und Umweltpsychologie der Universität Wien gegenüber der APA. Sie hat an der Studie mitgewirkt, u.a. auch an der Befragung der rund 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Österreich.
Die Studienteilnehmer mussten in dem Experiment eine Reihe von Fragen beantworten. Dabei wurden sie u.a. vor die Wahl gestellt, ob sie einen bestimmten Betrag sofort nehmen würden oder auf eine höhere Summe in einem Jahr warten würden. Die Fragen wurden dabei sowohl sprachlich als auch bei der Höhe des Betrags und der Währung an das jeweilige Land angepasst. "Die Szenarien waren hypothetisch, aber aus früheren Untersuchungen geht hervor, dass das Entscheidungsverhalten dabei ähnlich zu Studien ist, in denen tatsächlich Geld angeboten wird", so Geiger. Zudem machten die Teilnehmer Angaben zu ihren finanziellen Verhältnissen, ihrer Risikopräferenz, ihren wirtschaftlichen Aussichten und ihrer demografischen Situation.
Die Studie zeigte, dass die Tendenz zum Abwerten zukünftiger monetärer Belohnungen in allen Einkommensschichten weit verbreitet ist. Naheliegend ist dabei, dass ein niedriges Einkommen dazu ermutigt, unmittelbare Gewinne zu nutzen, auch wenn sie niedriger sind. "In einem schlechten wirtschaftlich Umfeld mit hohen Einkommensunterschieden und hoher Inflation zeigt sich jedoch, dass auch Menschen mit einem höheren Einkommen einen sofortigen geringeren Betrag statt einer späteren höheren Auszahlung bevorzugen", betonte Geiger.
Österreich tickt etwas anders
Gut zum Studienergebnis insgesamt passen die Resultate für Österreich (mit kleiner Stichprobengröße): "So wie in vielen anderen europäischen Ländern ist die Präferenz für kleinere sofortige Auszahlungen im Vergleich zu größeren, verzögerten Auszahlungen hierzulande geringer", betonte Geiger.
Die Studie zeigte auch, dass Menschen bei ihrer Entscheidung nicht konsequent sind. Vor die Wahl gestellt, sofort eine kleinere Summe oder etwas später einen größeren Betrag zu erhalten, ziehen die meisten Menschen den kleineren sofortigen Betrag vor. Wenn es aber ums Zahlen geht, und nicht darum Geld zu erhalten, zahlen die meisten Menschen lieber gleich den kleineren Betrag - und verzichten damit sofort auf diese Summe in ihrer Geldbörse -, als später eine höhere Summe zu berappen, etwa weil Zinsen verrechnet werden.
Nach Ansicht der Forscher könnten ihre Ergebnisse zu einer besseren Wirtschafts- und Sozialpolitik führen, etwa im Bereich Wohlfahrt. So werde oft angenommen, dass Menschen mit geringerem Einkommen eher ungünstige Entscheidungen - im Sinne der Bevorzugung der sofortigen Belohnung - treffen. "Unsere Studie zeigt aber, dass in einem ungünstigen wirtschaftlichen Umfeld alle - auch wohlhabende Menschen - dazu neigen, Entscheidungen zu treffen, die sofortige Klarheit über zukünftige Unsicherheit stellen. Ärmere Menschen sind also kein Sonderfall in Bezug auf 'temporal discounting'", betonte Geiger.
Service: https://doi.org/10.1038/s41562-022-01392-w