Mikrobiom - Das "kleinste Leben" groß im Kommen
Mehr als 40 Mikrobiom-Definitionen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten über das aus dem Griechischen stammende "kleinste Leben" aufgetan. Für das bloße Auge sind die kleinen Organismen unsichtbar und dennoch vom menschlichen Körper bis zu schwefelhaltigen Quellen überall präsent. Die Vielzahl an Definitionen mag an der relativ jungen und sich rasant entwickelnden Forschungsdisziplin liegen.
Im Juni 2020 erschien im Fachjournal "Microbiome" das Paper "Microbiome definition re-visited: old concepts and new challenges", das erstmals eine eindeutige Definition des Begriffs Mikrobiom beinhaltet. APA-Science hat es sich folglich nicht nehmen lassen, persönlich mit der Erstautorin Gabriele Berg vom Institut für Umweltbiotechnologie der Technischen Universität Graz und Christine Moissl-Eichinger vom Diagnostik und Forschungsinstitut für Hygiene, Mikrobiologie und Umweltmedizin an der Medizinischen Universität Graz zu reden.
Um endgültig zu klären, was nun unter dem Begriff Mikrobiom genau zu verstehen ist, wurde 2019 im Rahmen des EU-Projekts "MicrobiomeSupport" unter österreichischer Leitung ein internationales Expertengremium und weltweit Hunderte Expertinnen und Experten via Online-Erhebung dazu befragt. In besagtem Paper sind Ausschnitte der Ergebnisse sowie die daraus resultierende Definition nachzulesen: "Das Mikrobiom ist eine charakteristische Mikrobiota-Gemeinschaft, die einen präzisen Lebensraum mit spezifischen physio-chemischen Eigenschaften bewohnt."
In dieser Gemeinschaft leben einerseits die sogenannten Prokaryoten wie Bakterien und Archaeen. Das sind Lebewesen, die keinen Zellkern besitzen. Andererseits finden sich dort Eukaryoten wie zum Beispiel Protisten, Pilze und Algen, die wie wir Menschen einen Zellkern aufweisen. Wichtig für das Mikrobiom sind aber auch die Stoffwechselprodukte (Metabolite) der Mikroben. Die Mikroorganismen tragen so Zucker, Proteine oder Fette in ihre ökologische Nische ein. In ihre Lebensräume können aber auch mikrobielle Strukturelemente wie DNA- oder RNA-Bruchstücke, Viren und Phagen eingebettet sein. All diese Elemente sind keine Mikrobiota, weil sie nicht zu den lebenden Organismen zählen, gehören aber zum Mikrobiom.
Individuelles Mikrobiom als Fingerabdruck
Im Menschen befinden sich gleich mehrere Mikrobiom-Nischen, beispielsweise im Darm (über 1.000 verschiedene Mikroorgansimen), im Mund oder auf den Händen. Während jeder Mensch über ein individuelles Mikrobiom-Profil verfügt, ist die Zusammensetzung der Pflanzen-Mikrobiota artspezifisch - für die fast eine halbe Million Pflanzenarten ergibt sich daraus allerdings eine immense mikrobielle Vielfalt. Innerhalb einer Art ähneln die Mikrobiota von Pflanzen einander und sind daher sehr gut für Studien geeignet. Getrennt voneinander betrachten kann man sie aber nicht: "Wir trinken Wasser und essen Äpfel, beide Mikrobiome interagieren", weiß Gabriele Berg. "Pflanzenzüchter haben sehr stark das Mikrobiom gezüchtet, ohne es zu wissen. Und zwar die Phänotypen Geschmack, Lagerfähigkeit und Größe. Große Zuckerrüben bedingen ein Adipositas-Mikrobiom. Es gibt Tendenzen, die wir versuchen aufzudecken."
In der Mikrobiom-Forschung scheint es schon lange nicht mehr um die kleinste Einheit "Mikro-Ökosystem" zu gehen, sondern vielmehr um das Große und Ganze - das "Makro-Ökosystem". Die Interaktionen von Mikroben untereinander und Mikroben-Wirt-Interaktionen werden untersucht. Für den Menschen kann ein funktionierendes Makro-Ökosystem ein wichtiger Teil der Gesundheit sein. Christine Moissl-Eichinger sagt: "Die Mikroben begleiten uns das ganze Leben. Sie verdauen nicht nur unser Essen, sondern sie interagieren mit und trainieren das Immunsystem." Selbst die Stoffwechselprodukte der Organismen interagieren mit dem menschlichen Körper. Sie können Signale an das Gehirn schicken oder die Nahrungsaufnahme, das Wohlbefinden und Angstgefühle regulieren. Neben einer Vielzahl an Wechselbeziehungen zeigt sich eine solche auch in den Begrifflichkeiten rund um die Mikrobiota. Während zu den Mikroben und Mikroorganismen auch die Viren gezählt werden (da sie mikroskopisch klein sind) bezieht sich Mikrobiota ausschließlich auf kleine und "bios" lebende Organismen.
Zusammensetzung und Funktionsweise der Arten
Bei dieser ungeheuren Vielfalt an Kleinstlebewesen bedarf es standardisierter Analysemethoden. "Jedoch muss man in der Forschung flexibel und dynamisch bleiben, um das maximal Beste für die Fragestellung zu tun", so Moissl-Eichinger. Daher sei es nicht ungewöhnlich, dass sich der Goldstandard fast wöchentlich erneuere. Mess- und Analyse-Werkzeuge ändern sich rasant und unterstreichen die geschwinde Entwicklung in diesem Gebiet.
Für die Bestimmung der Arten gibt es mit dem DNA-Barcoding, bei dem spezielle Markergene (z.B. 16S rRNA-Gene für Bakterien und Archeen) sequenziert und mit Datenbanken verglichen werden, eine lang etablierte Methode. Bakterien der gleichen Art zeigen eine hohe Sequenzähnlichkeit und werden so einer Art zugeordnet. Zudem können auf diese Weise neue Arten detektiert werden.
Weitere Methoden widmen sich dem gesamten Mikrobiom; entsprechend werden alle Gene, Transkripte, Proteine oder Metabolite untersucht. Letztendlich liefert der Einsatz von diesen vielfältigen Methoden (Multi-Omics-Technologien) einen komplexen Datenpool, der es erlaubt, Rückschlüsse auf mikrobielle Interaktionen mit der Umwelt zu ziehen und Marker für Krankheiten zu entwickeln. Die Ergebnisse werden mit Daten internationaler Datenbanken abgeglichen. "Normalerweise analysieren wir mit verschiedenen Datenbanken und hoffen, dass es kongruent ist", sagt Moissl-Eichinger. Berg weiß: "Die Zusammensetzung der Arten mittels Barcoding ist noch recht einfach, aber zu verstehen, wie Mikrobiome wirklich funktionieren, ist die Herausforderung."
Überlebenskampf der Mikroben
Wie sehr die Mikrobiota in Wechselbeziehungen mit ihrer Umwelt stehen, haben die Forscherinnen aus unterschiedlichen Disziplinen in einer gemeinsamen Analyse verschiedener Innenräume mit unterschiedlichem Hygienemanagement und Reinheitsgrad von Krankenhaus bis Tiergehege gesehen. Obwohl man bei Krankenhäusern - insbesondere bei Intensivstationen - aufgrund der strengen Hygienemaßnahmen von einer keimarmen Umgebung ausgehen sollte, waren diese mit speziellen, hochgradig angepassten Mikroorganismengemeinschaften besiedelt. Nur ein sehr geringer Teil der dort vorgefundenen Bakterien (kleiner 2,5 Prozent) konnten anschließend im Labor kultiviert werden. Die neuen Methoden bieten jetzt erstmals Werkzeuge, Hygienemaßnahmen zu evaluieren und neu zu designen.
"So züchtet sich der Mensch sein eigenes Innenraum-Mikrobiom. Das hängt stark davon ab, wie viel und mit welchem Desinfektionsmittel gereinigt wird und ob da Pflanzen und Menschen im Raum sind", so Berg. Sowohl Berg als auch Moissl-Eichinger betonen, dass weniger Arten nicht gleich gesünder bedeutet. Denn oftmals stecken hinter den übrig gebliebenen Keimen Pathogene, die widerstandsfähiger und für den Menschen gefährlich sind. Das zeigt sich an der steigenden Zahl an Infektionen mit Krankenhauskeimen; pro Jahr sterben allein in Österreich 4.500 Menschen daran. Moissl-Eichinger: "Die Mikroorganismen reagieren, wenn ein Umweltparameter sich verändert und Stress erhöht wird. Dann haben natürlich diejenigen einen Vorteil, die sich gut angepasst haben. Sauberkeit und Desinfektion fördern resistente Mikroben. Das sind aber nicht die, die wir haben wollen. Für die Zukunft müssen wir uns eine Strategie überlegen, wie wir Mikroorganismen kontrollieren können, ohne sie zu stressen."
Der Einsatz von Chemikalien, Antibiotika oder anderen Medikamenten beeinflusst das Ökosystem der Kleinstlebewesen stark. "Wir haben es noch nicht geschafft, Antibiotika gezielt einzusetzen. Mit einer Antibiotikatherapie erwischen wir immer ganze Gruppen von Mikroorganismen, damit fallen viele, für das Ökosystem wichtige, mikrobielle Funktionen schlagartig aus", sagt Moissl-Eichinger. So kommt es eventuell zu unerwünschten Nebenwirkungen, die aus der Tatsache resultieren, dass pathogene Mikroorganismen in Bereiche vordringen, die ihnen sonst verwehrt blieben.
Neben dem medizinischen Aspekt steht auch die globale Gesundheit im Fokus der Forschung. So verweist Berg auf ein aktuelles EU-Projekt, das die Wechselbeziehungen von menschlichen Mikroorganismen mit Umwelteinflüssen untersucht, vom Klima über Nährstoffe bis zu Giften. Auch ist es der Expertin ein Anliegen, auf die Probleme hinzuweisen, die mit dem Verlust von Biodiversität einhergehen: "Mit jedem Aussterben eines Tiers oder Pflanze stirbt auch sehr viel Mikrobiom aus. Da müssen wir uns nicht wundern, dass unser Mikrobiom verarmt ist."
Das Interview zum Nachhören
Mit einer neuen Definition, zahlreichen Methoden und einem kurzen Einblick in die Forschung ist noch längst nicht alles zu den Kleinstlebewesen gesagt. Wie es um das Mikrobiom zu Zeiten von Corona, dem Klimawandel oder Mikroplastik steht, ob sich mittels Mikrobiom Leichenstandorte bestimmen lassen, ob Probiotika bei 1.500 Gramm leichten Frühchen förderlich sind, wie es zu Nebenwirkungen durch Medikamenteneinnahme kommt, was überhaupt in Bezug auf Ernährung zu beachten ist, warum Archaeen nicht pathogen wirken dafür aber Methan erzeugen und vieles mehr, können Sie im Audio zum Interview nachhören.
Das Gespräch führte Sandra Fleck / APA-Science
Service:
Gabriele Berg et al. (2020): "Microbiome definition re-visited: old concepts and new challenges" Microbiome 8:103, Juni 2020, https://doi.org/10.1186/s40168-020-00875-0; Video: https://vimeo.com/432492377
Mehr über Gabriele Berg in der Serie "Im Porträt": "Mikrobiomforschung ist mein Leben"
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