"Den lebendigen Gesamtorganismus verstehen"
Es gibt wenige Gebiete in Österreich, in denen so viel geforscht wird wie im Nationalpark Donau-Auen. Vermutlich wurde keine Landschaft Österreichs so umfangreich untersucht wie die Reste der Flussauen in und östlich von Wien, und auch die hier investierten Forschungsgelder sind beträchtlich.
Ein Nationalpark bietet für die Wissenschaft etwas Besonderes: Hier können natürliche Abläufe auf großer Fläche in einem wenig gestörten Umfeld beobachtet und untersucht werden. Zumindest sollte es so sein. Zugleich bietet der Nationalpark den ForscherInnen praktische organisatorische und fachliche Unterstützung bei Planung und Umsetzung von Forschungsvorhaben, wenn diese für das Schutzgebiet relevante Themen bearbeiten. Die Nähe zum Großraum Wien, der ja auch ein wissenschaftlicher und akademischer Ballungsraum ist, bringt für den Nationalpark Donau-Auen einzigartige Kooperationschancen mit den hier angesiedelten Universitäten und Forschungseinrichtungen.
Alle für die Schutzgebietsforschung relevanten Wiener Universitäten (Universität Wien, Universität für Bodenkultur, Universität für Veterinärmedizin und Technische Universität Wien) sind laufend im Nationalpark tätig, zumeist mit mehreren Instituten bzw. Departments. Etwa fünf Diplom- und Doktorarbeiten werden jedes Jahr über dieses Schutzgebiet verfasst. Der Nationalpark Donau-Auen ist Gegenstand unzähliger wissenschaftlicher Publikationen, die Fachvorträge auf internationalen Kongressen umspannen die moderne Naturkunde, die Sozialwissenschaften und die technischen Disziplinen.
Dabei geht nur der kleinere Teil der umfangreichen Forschungstätigkeit in Fluss und Au vom Nationalpark selbst aus, jedenfalls was die Aufträge und die Finanzierung betrifft. Die treibende Kraft sind die vielen Großprojekte, die diesen Raum betreffen und die in den letzten dreißig Jahren nicht nur planende Ingenieure, sondern auch viele WissenschaftlerInnen beschäftigt haben: von den Kraftwerksprojekten der Vergangenheit bis zu den Autobahnprojekten der Gegenwart, vom Hochwasserschutz Wien bis zur Sicherung des Wasserhaushalts und der Trinkwasserbrunnen in der Lobau, vom Ausbau der Wasserstraße bis zu den für Europa beispielgebenden Fluss-Renaturierungsprojekten im Nationalpark. Dazu kommen noch Flughafen, Gaspipelines, Stromtrassen, Windkraftanlagen und andere Infrastruktur, die modernisiert oder neu errichtet werden soll. Wenn die Vorhaben den Nationalpark betreffen, braucht es dazu wissenschaftliche Grundlagen, begleitende Untersuchungen, Beweissicherung, etc.
Es ist ein bisschen paradox: Die vielen Interessen und Projekte, die die Ziele des Nationalparks potenziell gefährden, helfen uns, besser zu verstehen, auf was es im Nationalpark eigentlich ankommt. Das war schon vor 30 Jahren so: Erst in der Auseinandersetzung mit dem Kraftwerksprojekt Hainburg hat sich ein breiteres Grundverständnis über das Wesen von Auen-Ökosystemen entwickelt – und die damalige intensive politische und gesellschaftliche Diskussion hat auch das Interesse der Wissenschaft für die Auen geweckt.
Wir haben heute, auch aufgrund neuerer wissenschaftlicher Analysen über den Zustand der Auen vor der Flussregulierung, ein klares Leitbild für die Entwicklung des Nationalparks. Wir glauben zu wissen, was wir wollen bzw. was wir anzustreben haben. Aber auch im 21. Jahrhundert sind unsere Kenntnisse noch immer unzureichend: über viele Abläufe im Ökosystem „Flusslandschaft“, über die hier lebenden Arten, über das Nahrungsnetz, den Nährstoffkreislauf und über die immer deutlicher sichtbaren Folgen früherer Eingriffe. Wir können nicht wirklich beurteilen, welche Veränderungen die eingeschleppten Tier- und Pflanzenarten langfristig bewirken werden, ob und wie die globale Klimaänderung hier sichtbar werden wird, und wie viel vom Charakter der ursprünglichen Donau-Auen für unsere Enkel noch erkennbar bleiben wird.
Ein Grundproblem der heutigen Donaulandschaft harrt noch immer einer Lösung: Bedingt durch Flussregulierung, Kraftwerkskette und Erhaltungsmaßnahmen für die internationale Schifffahrtsstraße gräbt sich die Donau immer tiefer in ihr Bett. Mittelfristig droht der Verlust der Altarme und Augewässer, eine weitgehende Entkopplung von Fluss und Au. Gegenmaßnahmen sind dringend erforderlich, seit 15 Jahren liegen die Konzepte vor, heuer werden sie erstmals in einem Naturversuch praktisch erprobt. Ein großangelegtes, integriert geplantes „Flussbauliches Gesamtprojekt“ wurde politisch auf Eis gelegt, auf derzeit unbestimmte Zeit.
Die Diskussion über dieses Projekt zeigt klar die Grenzen der Wissenschaft: Sie kann Fakten anbieten, konkrete Maßnahmen und Lösungen vorschlagen, aber eine fachlich orientierte Interpretation ihrer Ergebnisse konnte sie nicht gewährleisten. Diese erfolgte hauptsächlich in der medialen Diskussion, und die ist geprägt von bekannten Bildern, eingelernten Mustern und auch vom Misstrauen gegen „ExpertInnen“.
Dieses Misstrauen kommt nicht von ungefähr. Das Problem der Forschung im Nationalpark erinnert an Probleme der modernen wissenschaftlichen Medizin: Es besteht die Gefahr, über der Fülle der Daten und Fakten den lebendigen Gesamtorganismus zu vergessen. So wie es ÄrztInnen braucht, die nicht nur Befunde und Laborwerte, sondern auch die PatientInnen wirklich anschauen, braucht es ForscherInnen, die über die schnell publizierbaren Ergebnisse ihrer Spezialdisziplin hinaus das Ökosystem der Flussauen wirklich anschauen, in seiner Gesamtheit zu erfahren und zu erfassen versuchen - und das kontinuierlich, immer wieder, langfristig über Jahre und Jahrzehnte. Ich habe nicht den Eindruck, dass der derzeitige Wissenschaftsbetrieb eine solche Haltung belohnt.